Der vorliegende Text beruht auf einem Vortrag zum internationalen Symposion „Das Spirituelle: Pluralität und Einheit“ anlässlich des hundertjährigen Geburtstags von Ostad Elahi und wurde begleitend in den Cahiers d’Anthropologie, No. 5, Presses de l’Université de Paris-Sorbonne, Paris 1996, veröffentlicht.

Lassen Sie mich zunächst anmerken, dass der ‚Cour de Cassation‘ (Oberster Gerichtshof, Paris) ein ideales Forum ist, um sich ethischen und rechtlichen Themen zu nähern. Es unterstreicht die Bedeutung, die der Ethik in juristischen und sozialen Angelegenheiten zukommt. Ostad Elahi, dessen hundertjährigen Geburtstag wir dieses Jahr feiern, nahm grundsätzlich keine Trennung vor zwischen seinen persönlichen Analysen im Bereich der Ethik und seiner beruflichen Praxis als Richter. Er ging davon aus, dass die praktische Anwendung der Ethik nur die logische Fortsetzung seiner beruflichen Aktivitäten war. Im Vorliegenden möchte ich einige Elemente des Gedankenguts dieser Persönlichkeit, die im Westen bislang noch kaum bekannt ist, vorstellen, und bitte um Ihr Verständnis, wenn wir aus Zeitgründen nicht auf seine Biographie eingehen können.

Wie der ehrenwerte Präsident bereits erläuterte, wird der Begriff ‚Ethik’ in mehrfacher Bedeutung verwendet, was wir hier nicht weiter vertiefen möchten. Im Vorliegenden wollen wir den Begriff im umfassendsten Sinn verwenden, als einen Verhaltenskodex, der auf festen und unveränderlichen Prinzipien beruht und für die gesamte Menschheit Gültigkeit besitzt. Auch wenn diese Definition möglicherweise nicht von allen geteilt wird, so ist es dennoch im Rahmen dieses Vortrags von Vorteil, sich auf ein gemeinsames Verständnis des Begriffs zu einigen. Daneben gibt es noch zwei weitere Konzepte, die für das Gedankengebäude von Ostad Elahi von grundlegender Bedeutung sind: Das Prinzip der Achtung der Rechte anderer (als direkte Konsequenz aus der Verteilungsgerechtigkeit) und das Billigkeitsprinzip.

Ostad Elahi übte den Richterberuf zwischen 1934 und 1957 in unterschiedlichen Provinzen des Iran aus. Er bekleidete mehrere richterliche Ämter, darunter das des Untersuchungsrichters, des Staatsanwalts und des Präsidenten des Schwurgerichts. Als Jurist kennt man die Unterschiede zwischen dem Richteramt und dem des Staatsanwalts, und kann somit daraus schließen, wie global seine Sichtweise von diesen beiden komplementären Aspekten des Rechts geprägt sein musste. Das Richteramt sah er als eine der höchsten gesellschaftlichen Positionen an, und betonte sogar, dass es zwei besonders ehrwürdige Berufe gebe: den des Richters und den des Arztes. Wer sich nun mit den Statuten des Rechts befasse – so lassen sich die Aussagen Ostad Elahis interpretieren – , der würde sehr schnell erkennen, um wieviel schwieriger es sei, Recht zu sprechen, als eine Krankheit zu diagnostizieren: Der Richter müsse nicht nur eine Situation beurteilen und die damit verbundenen relevanten Tatsachen interpretieren, sondern auch widersprüchliche Interessen gegeneinander abwägen – sowohl die Interessen beider Parteien als auch die der Allgemeinheit.

Zudem geht die Aufgabe eines Richters über die simple und mechanische Anwendung von Gesetzestexten hinaus, denn diese erweisen sich oftmals als uneindeutig und lückenhaft. Nichtsdestotrotz ist es seine moralische und berufliche Pflicht, Streitigkeiten zu schlichten. Das erfordert besondere Fähigkeiten, wie Genauigkeit, Kompetenz, Gewissenhaftigkeit, aber auch das intensive Ringen und die feste innere Absicht, zu einem gerechten und unparteiischen Urteil zu gelangen. Dieses Ringen ist bei Ostad Elahi sehr deutlich sichtbar, vor allem in den Ratschlägen, die er seinen Kollegen und seinen Freunden hinsichtlich der Ausübung des Richterberufs gab. Ich zitiere: „Nach vier oder fünf Jahren Tätigkeit in seinem Beruf gleicht der Richter einem erfahrenen Juwelier, der mit einem einzigen Blick ein Schmuckstück bewerten kann. Genau wie der Juwelier erkennt der Richter sofort und unmittelbar den Schuldigen bzw. weiß, mit wem er es zu tun hat. Es kommt daher äußerst selten vor, dass er ein Fehlurteil fällt. Dies trifft aber, wohlgemerkt, nur auf jene Richter zu“, fährt er fort, „die sich um ein unparteiisches und integres Urteil bemühen.“ Man mag annehmen, das sei doch selbstverständlich, aber es ist leichter gesagt als getan!

Die erfolgreiche Ausübung des Richterberufs beschränkt sich folglich nicht allein darauf, das notwendige Fachwissen und die erforderlichen Kompetenzen zu erwerben. Es ist vielmehr unverzichtbar, eine geistige Haltung immanenter Gerechtigkeit in sich zu entwickeln, denn diese innere Qualität wird den Richter in seinen Entscheidungen lenken und ihn gerechte Urteile fällen lassen. Wie man sieht, ist das ein hoher moralischer Anspruch. Da der Richter Verhalten und Intention gleichermaßen beurteilt, ist er berechtigt, die schädlichen Auswirkungen einer gesetzlichen Regel zu korrigieren, die unter bestimmten Umständen möglicherweise zu rigide ist und zu falschen Schlüssen führt, wird sie nicht mit dem notwendigen Augenmaß interpretiert und angewandt. Hieran können wir erkennen, dass die Rechtsprechung wahrlich ein Experimentierfeld ist und ein unschätzbares Instrument, um moralische Werte zu erwerben.

An dieser Stelle ist es notwendig, einige Worte zur Verteilungsgerechtigkeit und ihren Folgen zu sagen, wie sie sich in Ostad Elahis Gedankensystem darstellen. Man mag sich fragen, wie die beiden unterschiedlichen Anforderungen an den Richterberuf in Einklang zu bringen sind: die persönliche Ethik einerseits und die juristische Praxis andererseits? Möglicherweise ist ein solcher Ansatz zu idealistisch, da es doch eine Reihe an Denkrichtungen gibt, die versucht haben, eine klare Trennung zwischen beiden Bereichen zu vollziehen. Trotzdem: Zielt das Gesetz nicht gerade darauf ab, jedem genau das zu geben, worauf er ein Recht hat, und auf diese Weise die öffentliche Ordnung und die soziale Gerechtigkeit sicherzustellen? Ist das nicht die Definition von Verteilungsgerechtigkeit im eigentlichen Sinne: jedem das zu geben, was ihm zusteht?

Diese Art von Gerechtigkeit anzuwenden, ist die zwingende Folge aus der Maxime, ein jeder habe die Rechte des Anderen zu respektieren. Diese Maxime repräsentiert, wie ich betonen darf, ein zentrales Element der Grundprinzipien französischen Rechts. Um zu idealer Gerechtigkeit zu gelangen, muss der Mensch das Recht eines jeden respektieren, weshalb die Fundamente einer solchen Gerechtigkeit nur metaphysisch sein können. Und damit kommen wir zum Kern dieser Erörterungen. Denn jedes Wesen ist, kraft seiner Existenz, mit Grundrechten ausgestattet. Diese angeborenen Rechte (intuitu personae oder Naturrecht) erschaffen um den Menschen eine Sphäre, die von anderen nicht ignoriert werden kann.

Denn letzten Endes ist es unvermeidbar, dass das Recht eines Geschöpfes die Verpflichtung eines anderen nach sich zieht. Jeder Mensch ist also angehalten, die Rechte des Anderen zu respektieren. Das ist das Grundmuster, demzufolge die verschiedenen Rechte der Individuen artikuliert werden können; es zeigt darüber hinaus die Notwendigkeit auf, geeignete Regeln aufzustellen, die bewirken, dass diese Rechte auch tatsächlich respektiert werden. Daher können Rechte und Pflichten nicht voneinander getrennt werden: wir haben Rechte, und wir haben Pflichten – beide Begriffe stehen in einer dialektischen Beziehung, der ein und dieselbe Idee zugrunde liegt. An diesem Punkt muss zu einer der Besonderheiten des Gedankensystems von Ostad Elahi Bezug genommen werden: Er betont, dass das Recht eines jeden Wesens anerkannt werden müsse, also nicht nur das des Menschen, sondern auch das der Gegenstände, Tiere, Pflanzen usw. Diese Sichtweise darf jedoch nicht mit neueren utilitaristischen und speziesistischen Ansätzen [in der Rechtstheorie] verwechselt werden, da Ostad Elahi klar zwischen Person und Sache [bzw. zwischen dem Menschen und vorherbestimmten Wesen] unterscheidet. Allein der Mensch hat einen freien Willen verliehen bekommen, der ihm erlaubt, Unterscheidungen zu treffen – die auch zu Fehlern führen können. Der freie Wille ist somit eine irreduzible Dimension. So gesehen verwundert es nicht, wenn Ostad Elahi sagt: „Der Grundpfeiler des Lebens in dieser Welt ist, das Recht des Anderen zu respektieren.“ Nur wenn dieses Prinzip eingehalten wird, kann eine Gesellschaft optimal funktionieren, und nur dann kommt eine Rechtsprechung zur Anwendung, in deren Zentrum die Achtung der Rechte steht und nicht eine intuitive Mischung aus wohlwollenden Gefühlen und ehrbaren Absichten. Ein solcher Rechtsbegriff erfordert natürlich eine genaue Einschätzung der individuellen Situation, wobei sich von selbst versteht, wie sehr die Komplexität des jeweiligen Sachverhalts berücksichtigt werden muss und welch extreme Genauigkeit in Hinblick auf die Prüfung der vorliegenden Fakten erforderlich ist. Die Entscheidung des Richters muss von der ständigen Intention geleitet sein, die Rechte eines jeden zu achten.

Nun würde ich gerne noch auf einen zweiten Begriff eingehen, den der Billigkeit. Durch seine außerordentliche Integrität und sein beharrliches Bemühen um ‚das Gerechte‘ hat Ostad Elahi sich den Respekt von Richtern, Anwälten und allen beteiligten Parteien erworben. An dieser Stelle darf ich François Ameli begrüßen, der Professor an der Juristischen Fakultät der Sorbonne ist, und dessen Vater in seiner Funktion als Justizminister die Gelegenheit hatte, Ostad Elahi kennenzulernen. Wir haben im Vorfeld des Symposions miteinander diskutiert, und er sagte mir, wie sehr Ostad Elahi diese Beharrlichkeit und diese ethische Orientierung als Maßstab angesehen hat, von dem er sich in seinem täglichen Leben und im Beruf leiten hat lassen.

Für Aristoteles drückte sich Billigkeit in dem Bemühen aus, einen Ausgleich zu finden zwischen der abstrakten Aussage des Gesetzes und der Auslegung desselben in einem konkreten Fall. Billigkeit steht somit immer in enger Verbindung mit der schwierigen Praxis der Urteilssprechung, also einer Praxis, die sich nicht ausschließlich auf die Buchstaben des Gesetzes berufen kann. Vielmehr müssen in jeder konkreten Situation die Interessen aller Beteiligten minutiös geprüft werden, bevor die Entscheidung mit Rückgriff auf die gesetzlichen Grundlagen getroffen werden kann. Folglich ist die Billigkeit eine Praxis, die untrennbar ist von einer spezifischen persönlichen Geisteshaltung, die Gerechtigkeitssinn und inneren Gleichmut einschließt – entsprechend der ursprünglichen Idee von ‚Aequitas‘ [lat. für Gleichheit, Gleichmaß, Gelassenheit, Gleichmut]. Damit stoßen wir auf einen weiteren, ebenso wichtigen Aspekt, die ausgleichende Gerechtigkeit.

Wie jeder von uns bezeugen kann, gibt es de facto Ungleichheiten. Nun liegt es aber im Verantwortungsbereich der Justiz – und hier stimme ich erneut mit dem Präsidenten Pierre Drai überein [dem Moderator des Symposions und einer bekannten Persönlichkeit der französischen Justiz], der bereits Professor Jean Carbonnier zitiert hat [einen Rechtswissenschaftler, der viele Reformen des französischen Justizystems durchgeführt hat] –, diese Ungleichheiten zu korrigieren, indem sie durch die Aufhebung der Ungleichheit – also durch nichts anderes als durch Kompensation – Gleichheit herstellt. Ostad Elahis Verhalten demonstriert diesen Aspekt auf hervorragende Weise, da seine besondere Aufmerksamkeit denen galt, die bedürftig oder schwach waren, wie Minderjährige oder Waisen, und die den besonderen Schutz des Gerichts benötigten. In der Folge wird Diskriminierung, die häufig Groll, Empörung und Aufruhr hervorruft, zugunsten von Gleichgewicht und Mäßigung ersetzt – gemäß einer Maxime, die Ostad Elahi sich zu eigen machte: Der beste Weg ist der Goldene Mittelweg. Dieser Mittelweg bzw. diese Form der Mäßigung sollte nicht als fauler Kompromiss oder Schwäche missdeutet werden. Im Gegenteil, diese Mitte stellt den Gipfel dar. Er wird nur um den Preis einer echten inneren Reinigung erreicht und ist die Vollendung der Grundprinzipien der Ethik. Neben der Ausgleichsfunktion, die der Billigkeitsgrundsatz hat, betont Ostad Elahi auch die Bedeutung von aufrichtiger Menschlichkeit und echtem Mitgefühl – was der Grund sein mag, dass er niemals die Todesstrafe verhängt hat, selbst wenn das Gesetz es erlaubte.

Abschließend sollen noch einige Worte zu den philosophischen Grundlagen der Rechtspraxis von Ostad Elahi gesagt werden. Diese Praxis hat ihren Ursprung im Inneren des Menschen, nämlich in seinem Bewusstsein. Wenn wir diese Grundlagen näher studieren, kommen wir nicht umhin, die eigentliche Natur des Bewusstseins zu erforschen – was uns letztendlich zu der Frage nach dem metaphysischen Sinn des menschlichen Daseins führt. Um dieses wichtige Thema zu erörtern, würden wir jedoch mehr Zeit benötigen als einen einzigen Vortrag.