Während die meisten Mystiker die Welt und ihr soziales Leben aufgegeben haben, um ein kontemplatives Dasein in der Abgeschiedenheit zu führen, hat Ostad Elahi genau das Gegenteil getan: Er hat einen vorgezeichneten Pfad, der vollständig der Askese und Meditation gewidmet sein sollte, verlassen, um eine neue Form der Spiritualität zu erforschen – eine Spiritualität, deren zentrales Anliegen es ist, die Aufmerksamkeit beständig auf das Göttliche zu richten und die inmitten der Gesellschaft im Rahmen eines normalen Lebens praktiziert wird. Als er daher 1930 eine Stelle beim Staat antrat, brach er nicht nur mit einer von Rückzug geprägten Lebensform, sondern auch mit der gängigen Vorstellung von Mystik an sich. Dieser neue Kontext gab ihm die Gelegenheit, sein Gedankensystem zu erweitern und seine ethischen Prinzipien einer Prüfung zu unterziehen.

Die gesamten zwölf Jahre der Askese, die ich durchlief, bevor ich in den Staatsdienst eintrat, entsprachen spirituell gesehen nicht einmal einem Jahr Dienst im Amt.

Im Jahr 1895, in dem Ostad Elahi geboren wurde, waren fast 100 Jahre vergangen, in denen der Iran von der Kadscharen-Dynastie regiert wurde. Mit dem Sturz der Kadscharen knapp 30 Jahre später kam Reza Khan auf den Thron. Sein Hauptanliegen galt in der Folge der schnellen Modernisierung des Landes. Er gestaltete die staatliche Verwaltung nach westlichem Vorbild um und legte den Grundstein für ein neues Rechtssystem. Natürlich dauerte es einige Zeit, bis diese Umwälzungen nachhaltige Auswirkungen auf die Bräuche und Lebensgewohnheiten einer Gesellschaft hatten, die von der Kadschar-Herrschaft stark geprägt war. Zu der Zeit, als Ostad Elahi in den Staatsdienst eintrat, herrschte in Persien im Wesentlichen eine quasi-feudale Struktur, in der einflussreiche Familien an ihrer Herrscherposition festhielten. Kleinere Städte standen unter dem Einfluss reicher Händler oder Großgrundbesitzer, die ihren Einfluss aktiv nutzten, um das Verwaltungs- und Rechtssystem durch Korruption und vergleichbare Druckmittel zu kontrollieren.

In Kerman gab es zwei große, sehr einflussreiche Familien, die Familien D. und Z. Zu der Zeit, als ich dort Präsident des Amtsgerichts dieser Provinz war, erfuhr ich, dass die Familie D. für einen Brandanschlag verantwortlich war, der den Obstgarten der Familie Z. verwüstet hatte. Es wurde Anzeige erstattet. Der verantwortliche Untersuchungsrichter war mit einer Summe von 24 000 Touman bestochen worden, damit er zu Gunsten der Familie D. urteilte. Unter dem Vorwand eines ‚Mangels an Beweisen’ erließ er daraufhin eine richterliche Verfügung, dass das Verfahren eingestellt werde. Familie Z. legte Berufung ein, und der Fall landete auf meinem Tisch. Nachdem die Beweise ganz eindeutig dafür sprachen, dass sie im Recht waren, gab ich die Anweisung, die Entscheidung des Untersuchungsrichters aufzuheben und die Akte wieder zu öffnen. Am Prozesstag hatten sich so viele Leute beider Gruppen im Gerichtssaal eingefunden, dass meine Stellvertretenden Richter es mit der Angst zu tun bekamen und den Fall nicht übernehmen wollten. So teilte ich ihnen mit, dass ich den Prozess selbst führen würde. Da es nicht günstig erschien, an diesem Tag ein Urteil zu fällen, verkündete ich, dass ich die Entscheidung des Gerichts am darauffolgenden Tag bekannt geben würde.

Am selben Abend kam ein Mann namens Hadj ‚Sch.’ zu mir, der Derwisch und Lobredner war, und sagte: ‚Die Familie D. hat mich geschickt, um Ihnen auszurichten, dass sie die Summe von 24 000 Toman, die sie dem Untersuchungsrichter gegeben hätten, verdoppeln würde, wenn Euer Ehren die ursprüngliche Entscheidung bestätigt. […] Die Familie hat Beziehungen zu den obersten Rängen des Justizministeriums; aber auch hier vor Ort stehen ihr überaus wirkungsvolle Mittel zur Verfügung.‘ Ich antwortete: ‚Teilen Sie ihnen mit, dass ich weder sie noch das Justizministerium fürchte. Sie sollen tun, was sie für richtig halten. Ich für meinen Teil aber werde ein gerechtes Urteil fällen.‘ Als Hadj Sch. gegangen war, suchten mich Abgesandte der Familie Z. auf, um mir zu sagen: ‚Wir haben mitbekommen, was Sie der Familie D. geantwortet haben. Wir zahlen noch mehr, wenn Sie ein gerechtes Urteil erlassen.‘ Auch sie schickte ich weg. Anschließend erfuhr ich, dass die Polizei um meine Sicherheit fürchtete und daher ohne mein Wissen Wachen aufgestellt hatte, die mein Haus die Nacht über beaufsichtigen sollten.

Am nächsten Morgen ging ich zu Gericht. Dort hatte sich eine riesige Menschenmenge eingefunden, die gekommen war, um die jeweilige Partei zu unterstützen. Ich gab mein Urteil bekannt, und hob damit die Entscheidung des Untersuchungsrichters auf, ohne dass irgendjemand etwas dagegen unternehmen konnte. Es blieb ihnen nur übrig, den Untersuchungsrichter in Misskredit zu bringen, indem sie [öffentlich] das Bestechungsgeld zurückforderten, das sie ihm zugesteckt hatten. Ich habe ihn rufen lassen und streng zurechtgewiesen.

In einem solchen Umfeld stieg Ostad Elahi 1934 in den Richterberuf ein und übte ihn unter diesen schwierigen Bedingungen bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1957 aus. Über den gesamten Zeitraum seines Berufslebens war er mit dem Druck dieser mächtigen Familien und mit Direktiven eines Ministeriums konfrontiert, das selbst unter dem unmittelbaren Einfluss ebendieser Familien stand. Weil er bestrebt war, Recht zu sprechen, ohne irgendeinem Druck von außen nachzugeben, wurde er viele Male versetzt – entweder auf Anraten dieser einflussreichen Familien hin, die sich an seiner Integrität stießen, oder auf Initiative des Justizministeriums hin, wenn er sich weigerte Entscheidungen zu treffen, die im Widerspruch zur Ethik standen.

Ich war Staatsanwalt in Chorramabad; dort gab es zwei Brüder, beide waren sehr reiche Kaufleute. Einer der beiden starb und hinterließ eine Witwe und fünf Kinder (vier Töchter und einen Sohn). Der andere Bruder verheiratete die zwei älteren Töchter an seine Söhne und nahm die Witwe zur Frau. Es blieben also zwei Töchter und ein minderjähriger Sohn, die ohne Schutz waren.

Jedes Mal, wenn ich auf einen neuen Posten versetzt wurde, kümmerte ich mich zuallererst um die Fälle, in die Minderjährige verwickelt waren. Dabei bin ich auf die bewusste Akte gestoßen. Ich bemerkte, dass meine Vorgänger auch Einsicht in diese Akte verlangt hatten, sie dann aber nicht weiter bearbeitet hatten. Ich habe die Akte erneut geöffnet und den Kaufmann vorgeladen, der im Übrigen über sehr viel Einfluss verfügte. Er kam zu mir und umwarb mich mit Schmeicheleien wie: ‚Ich bin Ihr demütiger Diener, Ihr aufrichtiger und ergebener Freund, usw.‘ Mit einem Wort, er gab sich sehr herzlich und freundschaftlich und sagte dann: ‚Euer Ehren, es ist eigentlich nicht der Mühe wert, in diese Sache Zeit zu investieren; an meiner Vormundschaft gibt es nichts auszusetzen.‘ – ‚Seit zwölf Jahren haben Sie es versäumt, die Vermögensverhältnisse dieser minderjährigen Kinder, die Ihre Mündel sind, offen zu legen.‘, sagte ich zu ihm. ‚Aber das ist nicht nötig‘, versicherte er mir, ‚da die Frau meines Bruders jetzt meine Frau ist, und zwei seiner Töchter meine Schwiegertöchter sind – und was die restlichen Kinder angeht, so sind diese wie meine eigenen. Aber sei’s drum, ich werde Ihren Anweisungen Folge leisten und Ihnen morgen die Aufstellung bringen.‘ Am nächsten Tag erschien er in meinem Büro mit einem großen Kuvert voller Geldscheine. ‚Was soll das?‘ fragte ich ihn. Er senkte den Kopf und sagte zu mir: ‚Euer Ehren, das ist nur ein wertloses Geschenk, und es ist doch niemand hier außer Ihnen und mir.‘ – ‚Sie täuschen sich‘, antwortete ich ihm, ‚es gibt hier noch jemanden – und das ist Gott.‘ Da habe ich verstanden, warum diese Akte so lange unbearbeitet in der Schublade gelegen war.

Was den Händler anbetrifft, so ließ er bis zuletzt nichts unversucht – ich erhielt sogar ein Empfehlungsschreiben aus dem Justizministerium, die Akte zu schließen –, aber ich ließ mich nicht beirren und bestand darauf, dass er die Vermögensverhältnisse der beiden minderjährigen Kinder offenlege. Schließlich warnte ich ihn, wenn er die Abrechnungen nicht binnen 24 Stunden beibringe, würde ich ihn verhaften lassen. Als er begriff, dass er ausgespielt hatte, bat er darum, dass man ihm ein paar Fachleute schicken möge, die seine Konten prüfen sollten. Ich sandte vier vertrauenswürdige Angestellte zu ihm – sie brauchten einen ganzen Monat, um die Vermögensverhältnisse zu sichten. Nur ein kleiner Teil des gesamten Vermögens, das er sich durch das Erbe der Waisen erworben hatte, konnte überhaupt berechnet werden – und selbst dieser belief sich auf eine astronomische Summe. Ich habe ihm sofort die Vormundschaft entzogen und den Minderjährigen ihr Eigentum zurückgegeben. Wie viel er vom Vermögen dieser Waisenkinder bereits durchgebracht hatte, das weiß Gott allein.

Meiner Meinung nach verübt ein Verantwortlicher, der Bestechungsgelder annimmt, damit eine Akte in der Schublade verschwindet, ein größeres Vergehen als der, der den Bestechungsversuch unternimmt.

Trotz dieser Schwierigkeiten übte Ostad Elahi seine Tätigkeit im Staatsdienst knapp 30 Jahre lang aus. In dieser Zeit stieg er in verschiedenen Positionen weiter auf: vom Friedensrichter bis zum Präsidenten des Schwurgerichts. In beiden Bänden seiner mündlichen Unterweisungen erzählt er, wie er Richter wurde, wie er seine Aufgaben erfüllte und warum er vorzeitig in den Ruhestand ging. Seine umfangreichen Erläuterungen zeigen allesamt, dass Ostad Elahis Engagement im Richteramt eines der wichtigsten Mittel war, mit denen er seine spirituelle Vision inmitten des gesellschaftlichen Lebens auf den Prüfstand stellte.