Nach seiner inneren Verwandlung und am Ende seines zwölf Jahre dauernden asketischen Rückzugs galt Ostad Elahi im Alter von einundzwanzig Jahren als spiritueller Führer und unvergleichlicher Musiker. In der Zeit der asketischen Abgeschiedenheit war er kaum mit all dem in Berührung gekommen, was sich außerhalb der Mauern des Hauses abspielte. Ihm war vor allem das Leben vertraut, das er im Garten Eden des elterlichen Heims erfahren durfte, in einer spirituellen Atmosphäre, in der materielle Attraktionen keine Rolle spielten. Nachdem dieser Zeitabschnitt der Askese zu Ende gegangen war, blieb er zunächst eine Weile dort wohnen, führte seine mystische Lebensweise fort und hatte nur wenig Kontakt zur Außenwelt. Gerade diese seine Unschuld und Unerfahrenheit machten ihm das Leben in Gesellschaft später zuweilen schwer:

Mein Leben spielte sich zur Gänze innerhalb dieser vier wohlvertrauten Mauern ab und an mein Ohr waren nur Worte der Wahrheit gelangt. Ich hatte keine Berührung mit der Gesellschaft… und keine Ahnung, wie die Leute lebten oder was sie dachten. Ich konnte mir nicht einmal vorstellen, dass jemand lügen oder betrügen könnte. Ich nahm an, die ganze Welt gleiche unserem Haus.

Obwohl es keine genauen Aufzeichnungen aus dieser Zeit gibt, legen verschiedene Berichte nahe, dass Ostad Elahi zunächst die traditionelle mystische Lebensweise seines Vaters beibehielt, bevor er einen Posten im Staatsdienst antrat: Er trug sein Haar lang, kleidete sich in das weiße Gewand der Derwische und folgte einer Tradition, der er seit dem Alter von sechs Jahren verbunden war. Zu dieser Zeit begab es sich auch, dass ein gewiefter Juwelier im Bazar von Teheran auf Ostad Elahis edle und charismatische Persönlichkeit aufmerksam wurde und ihn drängte, ihm die Geheimnisse der Alchemie zu enthüllen!

Als ich erste Mal nach Teheran fuhr, war ich 25 Jahre alt. Wir wohnten im Sangladj-Viertel und hin und wieder kam es vor, dass ich den Bazar durchstreifte. Schließlich zog ich die Aufmerksamkeit eines Schmuckhändlers im Bazar auf mich. Er war der Ansicht, ich strahlte eine gewisse Gelöstheit aus, und so nahm er an, dass ich das Geheimnis der Alchemie besäße. Eines Tages grüßte er mich sehr herzlich, lud mich in sein Geschäft ein und erwies sich als äußerst zuvorkommend. Als er hörte, dass ich gerade fastete, weckte das seine Neugier erst recht. Einige Tage später lud er mich erneut in sein Geschäft ein und sagte zu mir: ‚Mein Herr, dieses Geheimnis, über das sie verfügen, möchten sie mich nicht ein wenig davon profitieren lassen?‘ Damit bezweckte er, das Geheimnis der Alchemie zu erfahren! Dann erklärte er mir: ‚Ihre gelassene Ausstrahlung, Ihr Edelmut und Ihre Gelöstheit lassen mich zum Schluss kommen, dass Sie über das Geheimnis der Alchemie verfügen.‘ Kurz, er ließ nicht locker. Eines Tages sagte ich schließlich zu ihm: ‚Ich werde dich in das Geheimnis der Alchimie einweihen, aber nur unter einer Bedingung.‘ Er war sehr erfreut und sagte, er wolle jegliche Bedingung vollen Herzens akzeptieren. Also sagte ich ihm: ‚Hier ist die Bedingung: Alles, was dein Ego will, lehne aus tiefstem Herzen ab. Nach einiger Zeit werde ich dich prüfen und wenn du diese Vorschrift befolgt hast, gebe ich dir die Formel der Alchimie.‘ Nach kurzem Nachdenken antwortete er: ‚Aber mein Herr, wenn ich alle Wünsche meines Egos zurückweise, wozu dient mir dann die Alchemie?‘ Dann gab ich ihm einige Ratschläge, indem ich ihm erklärte, dass das, was man für gewöhnlich über die Alchemie sage, ein Schwindel sei, und dass das wahre Geheimnis der Alchemie sich in den Händen des Herrn befände und Er es nur jenen anvertraue, die es nicht nutzen. Hat der Mensch das Stadium der Gelöstheit erlangt und erbittet er von Gott nichts als Seine Zufriedenheit, dann hat er alles. In Seiner Großzügigkeit verweigert Gott uns nichts und gibt einem jedem, was gut für ihn ist.

Das Foto, auf dem ich mit einem Turban und langen Haaren zu sehen bin, stammt aus der Zeit, als ich gerade 26 Jahre alt geworden war. Ich war versunken in ein engelhaftes Universum, in einem fortwährenden Zustand der Askese. Innerhalb von 24 Stunden nahm ich nichts zu mir außer einem schlichten Mahl bei Sonnenuntergang, zur Stunde des Fastenbrechens.

Wenn ich die Fotos meiner Jugend betrachte, erfüllt mich ein besonderes Gefühl: Ich erinnere mich gut an den inneren Zustand, in dem ich mich befand. Die Welt und alles, was zu ihr gehört, bedeuteten mir nichts.

Hadj Nemat hatte der spirituellen Erziehung seines Sohnes Vorrang vor seiner schulischen Bildung eingeräumt. Dennoch zeigen Dokumente aus der Kindheit und Jugend Ostad Elahis, dass er über gute Fähigkeiten in Kalligraphie verfügte und dass er in den Bereichen Literatur (insbesondere im Bereich der Poesie), Theologie, Philosophie und Religionsgeschichte bewandert war. Bevor sein Vater im Jahre 1920 verstarb, verbrachte der junge Nur Ali viel Zeit damit, die Arbeiten seines Vaters zu transkribieren. Er erzählt, dass Hadj Nemat gegen Ende seines Lebens das ‚Buch der Könige der Wahrheit‘ innerhalb von 40 Tagen laut diktierte und dass ihm die Aufgabe zukam, des Vaters Worte rasch niederzuschreiben. Man kann davon ausgehen, dass es genau diese intellektuellen Grundlagen – gepaart mit Beharrlichkeit und natürlicher Begabung – waren, die es Ostad Elahi später ermöglichten, das dreijährige Programm der Rechtswissenschaften in nur sechs Monaten zu absolvieren, obschon er keine formale schulische Ausbildung durchlief.

Im Jahr 1917 heiratete Ostad Elahi auf Anraten seines Vaters, der einige Jahre später verstarb. Zwei Tage, nachdem er starb, kam Ostad Elahis erstes Kind zur Welt. Nach seines Vaters Tod übernahm er die Aufgabe, für seine Familie zu sorgen – also seine Mutter, seine zwei jüngeren Schwestern, seine Ehefrau und sein Kind – sowie sich um das Land zu kümmern, das er geerbt hatte. Trotz dieser Verantwortung widmete er den Großteil seiner Zeit der Kontemplation, seinen spirituellen Erfahrungen, gelegentlichem Fasten und asketischem Rückzug. Er gab spirituellen Unterricht, unternahm Pilgerreisen zu den Schreinen großer Ahl-e-Haqq-Persönlichkeiten, ordnete die Schriften seines Vaters und verfasste Kommentare zu einigen seiner Manuskripte. Eines der kostbarsten Zeugnisse dieser Zeitperiode ist sein Bericht über die Erschaffung des Universums. In dieser Abhandlung, die Ostad Elahi zufolge in einer spirituellen Vision wurzelt, erklärt er auf neuartige und detaillierte Weise, wie das Universum und die Menschheit erschaffen wurden.

Nur wenige Tage, nachdem Hadj Nemat verschieden war, betrachteten all seine Anhänger den Weggang ihres Meisters als das Ende der spirituellen Lichtperiode, für die er stand. Sie zerstreuten sich in alle Winde und so war der junge Nur Ali gänzlich sich selbst überlassen. Und weil Hadj Nemats Erzfeinde in seiner Vision einer reinen Spiritualität eine Bedrohung für ihre Position und ihre materiellen Interessen sahen, beschlossen sie die Gelegenheit zu nutzen und seinen Sohn auszulöschen, um auf diese Weise zu verhindern, dass er zu einem ähnlichen Hindernis würde wie schon sein Vater. Überzeugt, dass der göttliche Wille sich erfüllen würde, ignorierte Ostad aber ihre wiederholten Drohungen und weigerte sich zu fliehen. Nicht lange und das Blatt wendete sich tatsächlich: Seine Anhänger kamen zurück und scharten sich erneut um ihn. Sogar seine Gegner schlossen sich ihm an – nachdem sie sich eingestehen mussten, dass sie ihr Ziel nicht erreicht hatten, und, um den Schein zu wahren, ihr Bedauern über ihr Tun ausdrückten.

Von dieser Zeit an kamen seine Anhänger und Begleiter in den Genuss seines spirituellen Wissens und seiner Weisheit – genau wie zu der Zeit, als Hadj Nemat noch lebte.