Nur Ali Elahi – aufgrund seiner Meisterschaft auf dem Gebiet des spirituellen Wissens und der sakralen Musik auch als Ostad Elahi bekannt – wuchs in einer Atmosphäre auf, die von reiner Spiritualität durchdrungen war. Er ist geboren in Dscheyhunabad, einem entlegenen Dorf, das in den stillen Ebenen der Provinz Kermanschah liegt. Über ein Jahrhundert lang hatte dieser Ort bedeutende spirituelle Persönlichkeiten hervorgebracht und sich zu einem Zentrum der traditionellen Mystik entwickelt. Seine Eltern, ‚Nematollah Mokri Jeyhunabadi‘ (oder Nematollah Mokri Dscheyhunabadi, kurz Hadj Nemat) und Sakineh Chanom, hatten dem Brauch dieser Zeit entsprechend früh geheiratet und empfanden tiefe Zuneigung und Respekt füreinander. Hadj Nemat, eine bedeutende Persönlichkeit der Ahl-e-Haqq-Tradition , war für seinen Glauben, seine Integrität und seinen Mut bekannt. Auch war er ein Meister der Tanbur, einer Laute, die bei den Ahl-e Haqq der sakralen Musik vorbehalten war.

Karte des Iran

Ostad Elahi war noch nicht einmal sechs Jahre alt, als Hadj Nemat eine mystische Erfahrung durchlebte, die ihn vollkommen verwandelte. Sie brachte ihn dazu, sich völlig von der Gesellschaft zurückzuziehen und lediglich das aus dem Ertrag seiner Ländereien für sich zu verwenden, was für ihn und seine Familie notwendig war. Mit dem Rückzug aus der Gesellschaft begann er ein einfaches, asketisches Leben: Gebete und Klausuren waren von knapp aufeinanderfolgenden vierzigtägigen Fasten- und Askeseperioden begleitet, von individuellen und, seltener, Gruppengebeten, von spirituellen Unterweisungen, karitativen Taten und von Forschung und Schriftstellerei. Seine Ehefrau unterstützte ihn mit ganzen Kräften in seiner Berufung. Sie verzichtete auf all die materiellen Vorteile, an die sie von Kindheit an gewöhnt war, und folgte mit ganzem Herzen und allen Mitteln, die ihr zur Verfügung standen, dem Weg ihres Mannes.

Ungeachtet der Tatsache, dass Hadj Nemat die Öffentlichkeit scheute, brachten ihm seine vielen Wunder sehr schnell große Bekanntheit ein, und in weniger als zwei Jahren hatten sich mehrere Tausend Menschen um ihn versammelt, in der Hoffnung, aus seiner segensreichen Anwesenheit Nutzen zu ziehen. Unter ihnen befanden sich auch zweitausend Anhänger, die von nah und fern gekommen waren, teilweise sogar aus dem Ausland. Diese Derwische strebten danach seinem Vorbild zu folgen, indem sie innere Reinigung suchten sowie Kontemplation und Gebet praktizierten. Es ist bekannt, dass Hadj Nemat von seinen Anhängern viel erwartete und außerordentlich großen Wert darauf legte, dass sie sich in Selbstbeherrschung übten, bis hinein in die kleinsten Details ihres Lebens. Das ging so weit, dass ihnen nicht erlaubt war, Dinge zu tun, die für andere zu dieser Zeit ganz selbstverständlich erschienen, wie z.B. der Genuss von Tabak in jeglicher Form oder Schwarztee. Sie durften keine Reichtümer anhäufen und in besonderen Einzelfällen nicht einmal in üblicher Weise ein materielles Leben führen. So lange sie sich in der Eremitage und auf Hadj Nemats Anwesen aufhielten, wurde von ihnen erwartet, dass sie eine einheitliche Tracht trugen. Unabdingbar war für sie, die vier Säulen der Ahl-e Haqq zu beachten: Reinheit, Rechtschaffenheit, Demut und Wohltätigkeit.

In dieser Atmosphäre reiner Spiritualität begann Ostad Elahi ein Leben, das von Gebet und Kontemplation geprägt war und in dem seine spirituelle Erziehung eine zentrale Rolle spielte.

Am Anfang hatte mein Vater zwölf Derwische und sie trafen sich ein Jahr lang im privaten Rahmen. Ich wohnte ihren Versammlungen bei und diente als Brennpunkt ihrer spirituellen Liebe. Sowie die ersten Töne des Zekr erklangen, fing ich an, mich wie ein Kreisel um meine eigene Achse zu drehen und meine langen Haare flogen nur so…. Dies konnte mitunter Stunden dauern – und diese ganze Zeit drehte und drehte ich mich.

Ostad Elahi 1921

Sein Vater hatte ihn als Kind ‚Fathollah’ genannt‚ doch später rief er ihn aufgrund seiner Liebe und Verehrung, die er für Ali empfand, ‚Kutschek Ali’ (kleiner Ali). Obwohl Kutschek Ali über Jahre das einzige Kind im Haus war, erzählte Ostad Elahi später, dass er nie Langeweile empfand. Er musizierte und erfand alle möglichen Arten von Spielen, die von der spirituellen Atmosphäre und Umgebung inspiriert waren, in der er aufwuchs, und die zugleich seine Persönlichkeit widerspiegelten. Als man ihn Jahre später fragte, ob er nicht darunter gelitten habe, in seiner Kindheit keine Spielkameraden zu haben, sagte er: „Nein, überhaupt nicht.“

Während dieser Zeit spielte die spirituelle Musik in seinem Leben eine zentrale Rolle. Als er anfing, Tanbur zu lernen, waren seine Hände noch zu klein, um sie richtig auf den Bünden zu platzieren. Sein Vater ließ ihm daher aus einer Holzkelle ein Instrument in seiner Größe bauen. Weil er diese Musik leidenschaftlich liebte, spielte er oftmals über Stunden oder sogar nächtelang und erreichte in weniger als drei Jahren die Meisterschaft über dieses Instrument, so dass nur wenige in der Lage waren die Stücke zu spielen, die er so kunstfertig wiederzugeben verstand. Mit der Tanbur, die er als Kind und Jugendlicher bei seinen Nachtwachen spielte, öffnete sich für den jungen Nur Ali die Tür zur spirituellen Welt. Später, als er die Grundprinzipien der spirituellen Vervollkommnung darlegte, wies er auch darauf hin, dass die Musik ein geeignetes Werkzeug sei, um mit dem Göttlichen in Dialog zu treten.

Parallel zu seiner spirituellen und musikalischen Ausbildung erhielt er eine klassische Erziehung, wie sie zu dieser Zeit üblich war, wenngleich nicht ähnlich intensiv wie die spirituelle Schulung. Sein Vater war fest davon überzeugt, dass die Wege, durch die das Herrschsüchtige Selbst eindringen kann, geschlossen werden müssen, bevor selbiges in ihm erwacht. Danach könne man sich um seine formale Ausbildung kümmern. Diese materiellen Studien fanden teilweise durch Hauslehrer statt, teilweise durch den Besuch der örtlichen Schule. Aber die Person, die die bedeutendste Rolle in Ostad Elahis Erziehung und Ausbildung spielte, und der er während seines gesamten Lebens die größte Ehrerbietung erwies, war und blieb zweifelsohne sein Vater. Als erfahrener Mentor brachte er seinen Sohn dazu, die gesamte Fülle seiner Gaben zu entwickeln, ohne jemals Druck auf ihn auszuüben. Es gab etwas zwischen ihnen, das weit über die übliche Vater-Sohn-Beziehung hinausging, eine unverbrüchliche innere Verbindung, die niemals nachlassen sollte.

Er war nicht nur mein Vater und mein Führer, sondern wir waren durch ein besonderes spirituelles Band vereint.

Der junge Nur Ali war fast neun Jahre alt, als er sich seinem Vater und seiner Mutter in ihrer regelmäßigen Praxis des Fastens und der Kontemplation anschloss. Das erste Mal tat er dies in der nahegelegenen Stadt Sahneh, als er zusammen mit seinen Eltern und fünf auserwählten Derwischen eine 40-Tage-Periode in Fasten und Askese verbrachte. Als er nach einem Jahr wieder nach Dscheyhunabad zurückgekehrt war, führte er diese Übung in einem Zeitraum von elf aufeinanderfolgenden Jahren in der Abgeschiedenheit des so genannten ‚Hauses der Askese’ wiederholt fort.

Das Haus der Askese war ein Teil des Wohnhauses von Hadj Nemat und bestand aus einigen wenigen Räumen und einem kleinen Innenhof. Dort verbrachte Ostad Elahi als Kind und Jugendlicher den größten Teil seiner Zeit. In Gegenwart seines Vaters, seiner Mutter und einigen auserwählten Derwischen widmete er sich in regelmäßigen Abständen von 10 bis 15 Tagen für jeweils 40 Tage der Askese und Klausur. Während der kurzen Unterbrechungen begleitete er seinen Vater bei Pilgerfahrten zu den Grabmälern der großen spirituellen Persönlichkeiten der Region, unternahm Ausritte oder traf sich mit Derwischen oder anderen Personen zum gemeinsamen Gebet. Über diesen Zeitabschnitt berichtet er später:

Welch glückliche Zeit! Welche Atmosphäre! Wir waren ständig ins Gebet und in heilige Gesänge vertieft und hatten keine Ahnung, was sich in der Welt ereignete.

Nachdem er zwei Jahre lang diese Art von Rückzug praktiziert hatte, vollzog sich im Alter von elf Jahren ein Wandel in seinem Leben – den kleinen ‚Kutschek Ali’ gab es von da an nicht mehr. Aufgrund eines außergewöhnlichen spirituellen Ereignisses am Grabmal von Soltan Sahak widerfuhr ihm eine spirituelle Transformation – als ob der Körper eines Kindes den Geist eines weisen Erwachsenen in sich geborgen hätte. Sogar sein Name wurde von Fathollah (oder Kutschek Ali) zu Nur Ali (‚Alis Licht‘).