Um die Wahrheiten aufzudecken, die der spirituellen Vervollkommnung zugrundeliegen, gab sich Ostad Elahi nicht damit zufrieden, die Prinzipien der Religionen und der universalen Weisheitslehren aus theoretischer Sicht zu untersuchen. Vielmehr hat er diese während seines ganzen Lebens in verschiedenen Situationen und in der Interaktion mit anderen Menschen experimentell überprüft.

Die Methode der ‚Natürlichen Spiritualität’ zeichnet sich dadurch aus, dass sie besonderen Wert auf die Vernunft legt (mehr als auf die Emotionen), um die Mechanismen zu erkennen, die der Reifung der Seele zugrundeliegen. Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Sichtweise der Spiritualität geht es hier auf keinen Fall darum, mittels spezieller Übungen (asketischer, meditativer oder anderer Art) veränderte Bewusstseinszustände hervorzurufen oder außergewöhnliche Fähigkeiten zu erwerben. Vielmehr sollten wir mithilfe ganz alltäglicher Ereignisse und im Zuge eines normalen Lebens inmitten der Gesellschaft ein immer höheres Niveau an Aufmerksamkeit und Bewusstsein für die Kräfte entwickeln, die unser Selbst regieren.

Dieser Ansatz beschränkt sich nicht auf eine Übung in psychologischer Innenschau, denn er ist vor allem experimentell und praxisbezogen. Indem man sich selbst kennenlernt, verändert man sich, und indem man Anstrengungen leistet, um sich zu verändern, lernt man sich selbst wiederum besser kennen. So kann man die Widerstände, die es zu überwinden gilt, genauer einschätzen und entwickelt zugleich ein besseres und tieferes Verständnis in Hinblick auf die ethischen und spirituellen Prinzipien, auf die sich die spirituelle Praxis gründet.

Solange der Mensch sich nicht selbst erkennt, kann er Gott nicht erkennen. Der erste Schritt zur Selbsterkenntnis ist der Kampf gegen Selbstsucht und Ichbezogenheit.

Wenn diese Spiritualität als ‚natürlich’ bezeichnet wird, dann deshalb, weil sie an die Natur des Menschen angepasst ist. Die Seele ist vergleichbar mit einem Organismus, das heißt, sie muss sich von geeigneten Prinzipien ernähren, um ihre Gesundheit erhalten und ein sukzessives und ausgeglichenes Wachstum sichern zu können. Daraus leitet sich die Bedeutung der Matrix Körper, soziales Leben und irdische Umgebung ab. Anders als die klassische Mystik mit ihrem Hang zur Askese vertritt Ostad Elahi die Ansicht, dass den Rechten des Körpers dieselbe Bedeutung zukommt wie den Rechten der Seele.

Praktisch gesehen findet der Reifungs- und Erkenntnisprozess des Selbst in der konkreten und täglichen Konfrontation mit dem ‚Herrschsüchtigen Selbst’ statt, das die Quelle aller Widerstände gegen Ethik und spirituellen Fortschritt ist. Diese innere Kraft, zugleich impulsiv und verschlagen, resultiert aus unseren Schwachpunkten. Diese wiederum sind das Ergebnis einer unkontrollierten Aktivität bestimmter Charaktereigenschaften animalischen Ursprungs. Das Herrschsüchtige Selbst ist eine psychische Energie, die uns und anderen schadet und die sich insbesondere darin äußert, dass wir unsere eigenen Rechte und die der Anderen verletzen. Wenn man versuchen möchte, seine verschiedenen Facetten und Vorgehensweisen zu identifizieren, muss man die Ethik tatsächlich praktizieren, das bedeutet, die Rechte der Dinge zu respektieren und auf selbstlose Weise zu handeln, indem man gegen die Tendenzen der eigenen egoistischen Animalität vorgeht. Ostad Elahi betont, wie wichtig es ist, dabei die Aufmerksamkeit auf das spirituelle Ziel zu lenken und eine uneigennützige Intention zu entwickeln, die auf die göttliche Zufriedenheit gerichtet ist.

Da die Natürliche Spiritualität die Bedingungen für ein natürliches Wachstum der Seele aufzeigt, nimmt sie die Form eines Curriculums an, dessen genau definierte Stufen nacheinander durchlaufen werden müssen, will man die Vollkommenheit erreichen. Die authentischen Religionen bringen dem Menschen die moralischen Grundlagen und Glaubensüberzeugungen bei, die das Fundament des spirituellen Lebens ausmachen. Die ‚universitäre‘ Stufe der spirituellen Vervollkommnung besteht darin, diese Gedankenschulung zu vertiefen, um in sich die Charakterzüge der Menschlichkeit zu entwickeln: Dort fängt die eigentliche Arbeit an der Selbsterkenntnis an, deren Triebfeder der Kampf gegen das Herrschsüchtige Selbst ist.

Diese Ausbildung, in deren Rahmen der Aufenthalt auf Erden eine vorbereitende Stufe darstellt, kann mit einem Medizinstudium verglichen werden. Genauso wie man im biologischen Bereich die objektiven Gesetzmäßigkeiten und die kausalen Prozesse für Gesundung und Entwicklung des Körpers erlernt, erwirbt man im spirituellen Bereich die objektiven Gesetzmäßigkeiten und die kausalen Prozesse zur Gesundung und Entwicklung der Seele. Die Menschen sind alle von gleicher Natur: die Prinzipien einer solchen ‚Medizin der Seele‘ sind also per se universal, genauso wie jene der Medizin des Körpers und der experimentellen Wissenschaften. Anders gesagt, die Natürliche Spiritualität ist nicht gebunden an eine bestimmte Kultur, einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Zeit. Jeder kann sie sich aneignen und in die Tat umsetzen, vorausgesetzt, dass er an die Spiritualität mit der Geisteshaltung eines Studenten oder eines Forschers herangeht, ohne die Erwartung, dort die Wünsche seines Egos befriedigen zu können, ob nun in Form ekstatischer Hochgefühle oder mentalen Friedens.

Die Studienfächer der Medizin der Seele sind die göttlichen Wahrheiten, die die Entwicklung des Selbst steuern. Diese Wahrheiten zu verinnerlichen kann uns niemand abnehmen. Ostad Elahi geht davon aus, dass die Meister-Schüler-Beziehung angesichts der universitären Form der spirituellen Ausbildung nicht angebracht ist. Seiner Meinung nach ist es unabdingbar, dass jeder von uns Arzt seiner eigenen Seele wird; der Spiritualität muss man sich dabei mithilfe der Vernunft und durch geeignete kognitive Prozesse nähern. Die Entscheidung, sich auf die Spiritualität einzulassen, ist eine Entscheidung, die der eigenen Gewissensfreiheit obliegt, das heißt, es handelt sich um eine rein freiwillige Angelegenheit.