Das Buch Erkenntnis der Seele (Marefat ol-Ruh) erschien im Jahre 1969. Es ist das Ergebnis von Ostad Elahis ausführlichen theologischen und philosophischen Recherchen sowie der inneren Erforschung der verschiedenen Dimensionen der Seele. Als eine der wenigen rein theoretischen Arbeiten Ostad Elahis könnte das Buch als Beitrag gewertet werden, der ausgehend vom Zeitpunkt der Publikation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die philosophisch-theologische Diskurstradition wiederbelebt. Auf den zweiten Blick aber zeigt sich, dass das Ziel des Buchs weitaus komplexer ist. Indem Ostad Elahi im vorliegenden Werk die logischen Argumentationen und die herkömmlichen Methoden der metaphysischen Tradition verwendet, mit der er vollauf vertraut ist, und zugleich eine Verbindung herstellt zwischen dem Neuplatonismus und Philosophen wie Avicenna und Mulla Sadra Schirasi, legt er darauf aufbauend die Ergebnisse seiner eigenen Forschungen und Entdeckungen dar. Indem er Beweise, Widerlegungen und Gegenwiderlegungen anführt, ist sein Ziel, das einzigartige Zeugnis einer gelebten Erkenntnis zu entschlüsseln, einer de-visu-Erkenntnis, die ebenso unwiderlegbar ist wie philosophische Argumente; man bezeichnet dies in der islamischen Tradition als ‚Enthüllung‘ (Kaschf), also die konkrete Wahrnehmung von spirituellen oder unsichtbaren Wirklichkeiten. Es gibt daher so etwas wie ein doppeltes Leseschema, das die Originalität dieses Buchs ausmacht, einerseits die argumentative und analytische Linie der philosophischen Positionen, andererseits die Linie der Offenbarung und spirituellen Erkenntnis. In der ersten Lesart weist das vom Autor gesponnene Netz von Argumenten implizit auf die Grenzen eines philosophischen Diskurses mit rein theoretischem Charakter hin (die Positionen widerlegen sich gegenseitig), während zweitere diesen begrenzten Diskurs zu einem breiteren spirituellen Horizont hin öffnet, der sich auf die tatsächliche Vervollkommnung der Seele bezieht.
Wie der Titel bereits sagt, befasst sich Erkenntnis der Seele mit Fragestellungen rund um die Seele, wie dem Beweis für die Existenz der Seele und ihre Unsterblichkeit, sowie mit den verschiedenen Stufen, die die Seele während ihres Wegs in aufsteigend aufeinanderfolgenden Leben durchschreiten muss, um schließlich ihre endgültige Bestimmung (die Vollkommenheit) erreichen zu können. Darüber hinaus werden Themen berührt wie die Existenz Gottes, die Zwischenwelt sowie Wiederauferstehung von Körper und Seele usw. Ostad Elahi liefert eine erschöpfende Darstellung der unterschiedlichen Positionen und Argumente zu diesen eschatologischen Fragestellungen. Für einige Ansätze liefert er auch Gegenargumente, um diese zu widerlegen, darunter vor allem die Theorie der Seelenwanderung.
Das siebte Kapitel des Buchs verdient besonderes Augenmerk, da es das Herzstück der vorliegenden Arbeit bildet. Es enthält eine genaue Beschreibung des Konzepts der Vollkommenheit und der verschiedenen Modalitäten des Prozesses, in dessen Verlauf die Seele sich vervollkommnet. Es liefert außerdem eine neuartige Beschreibung der Zwischenwelt und der Modalitäten der Existenz der Seele in diesem spirituellen Zwischenraum. Ostad Elahi erläutert in diesem Kapitel die Regeln für die Vervollkommnung der Seele während ihrer himmlischen und irdischen Aufenthalte und geht dabei insbesondere auf den Zyklus der aufsteigend aufeinanderfolgenden Leben ein.
Im Lauf der Darstellung des Prinzips der aufsteigend aufeinanderfolgenden Leben legt Ostad Elahi dieses als ein weiteres zentrales Element seines Gedankensystems dar – zentral, weil auf Grundlage dieses Prinzips die Frage nach der Gerechtigkeit des göttlichen Systems gelöst wird. Das Prinzip der aufeinanderfolgenden Leben stellt eine besondere Herausforderung dar, zum einen, weil es von der religiösen Orthodoxie nicht anerkannt wird, zum anderen, weil es mit Theorien der Seelenwanderung gleichgesetzt wurde, die jedoch mit der Philosophie der Vervollkommnung nicht vereinbar sind.
Ostad Elahi liefert weiterhin eine Ausarbeitung der metaphysischen Struktur des Menschen und verdeutlicht die Rolle von irdischer und himmlischer Seele innerhalb des Prozesses der Vervollkommnung sowie die Natur der Beziehung, die diese beiden Pole miteinander unterhalten.
Durch seine gesamte Arbeit hindurch verwendet Ostad Elahi Argumente aus den Bereichen Vernunft, Tradition und Offenbarung. Sie führen zu einem rationalen Diskurs, wie er in der Philosophie seit den Griechen üblich ist; zugleich stellt er eine enge Rückbindung zum spirituellen Diskurs her, der aus der religiösen Tradition herrührt. Eines der Ziele von Erkenntnis der Seele ist zu zeigen, dass der Prozess der Vervollkommnung nicht nur mit den Prinzipien der Offenbarungsreligionen vereinbar ist, sondern auch als logische Folge gerade dieser Prinzipien gesehen werden kann.
Auszüge
Kapitel 7
Nachdem die Zwischenwelt soeben erwähnt wurde, bietet uns dies die Gelegenheit, die besonderen Merkmale dieser Welt näher zu beschreiben, um zur Erhellung jener beizutragen, die sie genauer verstehen möchten.
Die Zwischenwelt ist eine Welt, die zwischen dieser materiellen Welt und der ewigen Welt liegt. Es gibt dort keine räumliche und zeitliche Dimension [im irdischen Sinne]. In Hinblick auf ihre Ausdehnung ist die Zwischenwelt unbegrenzt, so dass, wenn jedes Geschöpf des Universums, vom ersten bis zum letzten, sich dort einfände, sich der Platz, den diese Geschöpfe einnehmen, in keiner Weise auf ihre Ausdehnung und ihr relatives räumliches Fassungsvermögen auswirken würde – ebensowenig, wie all die Gedanken und Erinnerungen, die das menschliche Gehirn sogar über das Vorstellbare hinaus aufnehmen kann, die Ausdehnung und das relative räumliche Fassungsvermögen des Gehirns verändern. Was die Zeitlichkeit anbetrifft, so gibt es für alle existierenden Wesen eine individuelle Wahrnehmung der Dauer, die je nach Schicksal und Verdienst der Taten eines jeden variiert. Demzufolge ist es möglich, dass ein Jahr in der Zwischenwelt nicht der Dauer eines irdischen Sonnenjahres entspricht. So kann beispielsweise ein Jahr in der Zwischenwelt einer Sekunde der auf der Erde verbrachten Zeit entsprechen und umgekehrt.
Es wäre nun falsch anzunehmen, diese Zeitlichkeit der Zwischenwelt (sei es, dass eine einzige Sekunde dort einem irdischen Sonnenjahr gleichkommt oder sei es, dass der umgekehrte Fall gilt) wäre auf Einbildung oder Illusion zurückzuführen. Es ist nicht wie mit der fiktiven Welt unserer Träume, wo wir zum Beispiel einen unvorstellbar großen Raum sehen, in dem sich eine riesige Menge an Menschen über einen unbegreiflich langen Zeitraum aufhält. Aber sobald die Person erwacht, bleibt keinerlei faktische Wirklichkeit von all dem zurück. Denn in der Zwischenwelt, die die imaginale Welt ist, beruht die Wahrnehmung von Zeit und Raum auf ‚quintessentiellen Wahrnehmungen‘ (nascha’at) und nicht auf Vorstellungen von Dimension, Maß und Dauer der irdischen Welt. In anderen Worten ausgedrückt heißt das: Was auch immer die Seele in der Zwischenwelt durch diese quintessentielle Wahrnehmung erfährt, ist die eigentliche Realität und die unumstößliche Wahrheit.
Die Zwischenwelt wird auch deshalb als eine Art ‚imaginale Welt’ [oder Replik] bezeichnet, weil jedes Wesen der irdischen Welt nach seinem Tod in der Zwischenwelt genau in der Statur, Form und Gestalt erscheint, die es auf der Erde hatte – ohne qualitative oder quantitative Veränderung. Außerdem wird ihm, solange es nötig ist, ein Umfeld bereitet und projiziert, das in allen Aspekten der irdischen Umgebung gleicht, das ihm auf der Erde zur Vollendung seiner Vervollkommnung fehlte.
Um eine Vorstellung davon zu vermitteln, wie groß der Unterschied zwischen der materiellen Welt und dem höheren Bereich der Zwischenwelt ist, kann man ihn auch mit dem Unterschied zwischen der Gebärmutterumgebung für den Fötus und der freien Luft für das Neugeborene vergleichen – oder mit dem Unterschied zwischen Düsternis und Licht.