Ein Vortrag von Prof. James Morris, Professor für Religionswissenschaften, gehalten auf einem internationalen Symposium anlässlich des hundertsten Geburtstags von Ostad Elahi und veröffentlicht in Les Cahiers d’Anthropologie, Nr. 5, Presses de l’Université de Paris-Sorbonne, Paris, 1996.

Ostad Elahi wurde in einem kleinen traditionellen kurdischen Dorf geboren, auf das er oft zurückkommt, wenn er von seinen Kindheitserlebnissen erzählt. Damals verließen die Menschen ihre Dörfer nur selten und ihr religiöses Leben beruhte fast ausschließlich auf den einheimischen Gewohnheiten und Bräuchen. Die religiösen Repräsentanten vermittelten Glaubensüberzeugungen und Verhaltensregeln, die sich im Laufe der Jahrhunderte nur langsam veränderten. Ein der Spiritualität geweihtes Leben zu führen und sich dem Trubel der Welt zu entziehen, war nur einigen Mystikern und deren Schülern vorbehalten. Die bedeutenden Fortschritte des 20. Jahrhunderts (in den Bereichen Technologie und Kommunikation sowie in Bezug auf die wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen) haben diesen jahrtausendealten festen Rahmen des Lebens und der Religion nach und nach untergraben und beseitigt. Die Menschheit ist in das Zeitalter des ‚globalen Dorfs‘ eingetreten. Religiöse Überzeugungen und Praktiken können heute weder in einem blinden Partikularismus isoliert bleiben noch als archaische Formen schlichtweg abgelehnt werden. Unter diesen Umständen ist es dringender denn je, damit zu beginnen, über unsere gemeinsame spirituelle Natur und unser gemeinsames Ziel nachzudenken, allerdings auf eine Art und Weise, die der heutigen Zeit angepasst ist.

Schon zu der Zeit, da Ostad Elahi lebte, aber auch heutzutage versuchen Menschen aller Religionen und Kulturen auf zweierlei Weise auf diese neue Situation zu reagieren: Entweder wird versucht, alle religiösen Traditionen der Vergangenheit abzulehnen und eine neue Welt zu schaffen, die auf einer ‚bloß menschlichen‘ Ethik ohne spirituelle Bezüge basiert, oder es wird der Ansatz verfolgt, diese neuen Herausforderungen zu umgehen, indem künstlich abgeschottete Gemeinschaften errichtet wurden, die sich auf die beruhigenden (aber illusionären) Sicherheiten und Gewissheiten vormoderner religiöser Traditionen stützen. Um zu ermessen, wie schwerwiegend die Konsequenzen dieser beiden Optionen sind, genügt es, die Zeitung aufzuschlagen oder die Nachrichten zu hören…

Angesichts dieser globalen Veränderungen und der damit verbundenen Herausforderungen schlägt Ostad Elahi einen dritten Weg vor, der auf einem tiefgreifenden Verständnis unseres religiösen Erbes sowie unserer neuartigen Situation in der modernen Welt beruht. Dieser Weg beleuchtet und respektiert nicht nur die gemeinsame spirituelle Essenz der Religionen, sondern auch die praktische und ethische Funktion, die die Religionen in verschiedenen Lebensbereichen erfüllen und die im Rahmen dieses Symposiums angesprochen werden.

Um diese globale Vision zu verdeutlichen, hebt er regelmäßig als erstes den Unterschied hervor zwischen der Essenz und dem spirituellen Ziel, das alle Offenbarungsreligionen gemeinsam haben, und der damit verbundenen exoterischen, rituellen Dimension, die sich nur auf unser materielles und soziales Leben bezieht. Er sagt zum Beispiel:

Es sind die Sekundärvorschriften, in denen sich die Religionen voneinander unterscheiden – was aber ihre Grundprinzipien und ihr Ziel anbelangt, sind sie eins.

Auf die Bedeutung, die Ostad Elahi dieser gemeinsamen, grundlegenden spirituellen Dimension beimisst, werde ich später noch zurückkommen, denn darin liegt der Schlüssel zur Einzigartigkeit und Universalität seines gesamten Denkgebäudes. Doch zunächst sollten wir uns die Zeit nehmen, auf einige praktische und nicht minder wichtige Implikationen einzugehen, die sich auf unser Leben in Gesellschaft beziehen.

Die erste und deutlichste Implikation ist die Forderung nach Toleranz und gegenseitigem Verständnis in allen Lebensbereichen. Ohne diese Toleranz und die damit verbundene Vielfalt an religiösen Ansätzen und Perspektiven würde niemand seinem eigenen spirituellen Weg frei folgen können, geschweige denn, dessen Wahrhaftigkeit vollständig beurteilen können. Zu diesem Thema sagt Ostad Elahi wiederholt, dass man alle Religionen respektieren müsse und keine Religion abgelehnt werden dürfe.

Die zweite Implikation, die angesichts der sozialen und religiösen Bräuche, die in seinem kulturellen Umfeld herrschen, überraschen mag, betrifft den von ihm wiederholt betonten Grundsatz der Gleichheit von Mann und Frau:

Frauen und Männer sind in jeder Hinsicht gleichgestellt… und es gibt viele Frauen, die sogar einen höheren spirituellen Rang einnehmen als die Propheten.

Diese Aussage ist keine leere Formel, sondern bildet ein weitreichendes spirituelles Prinzip ab, das er selbst stets zur Anwendung brachte, wovon viele seiner Aussagen zeugen.

In Ostad Elahis Lehren stoßen wir oftmals auf ein Prinzip, in ganz konkreter Form und mit einem praktischen Ziel, und stellen fest – wenn wir es in die Tat umsetzen – dass es uns zu einer tieferen spirituellen Wirklichkeit führt.

Die Betonung der ethischen Notwendigkeit religiöser Toleranz und der Gleichheit von Mann und Frau steht beispielsweise im Zusammenhang mit dem tiefen spirituellen Ziel universaler Liebe und universalen Mitgefühls – einem Ziel, das allen religiösen Traditionen gemein ist.

Auf die Frage „Was ist Mystik (oder spirituelle Erkenntnis)?“ antwortet Ostad Elahi wie folgt:

Wenn du alle Propheten und Heiligen als authentisch ansiehst und keinen Unterschied mehr zwischen den Religionen machst, hast du die Etappe der Mystik betreten. Wenn du jeden als Mystiker ansiehst, dann hast du die Bedeutung der Mystik verstanden.

Oder noch einfacher:

Was du für dich selbst wünschst, das sollst du auch für andere wünschen und tun; und was du für dich selbst nicht wünschst, das sollst du auch für andere nicht wünschen bzw. versuchen sie davor zu schützen. Darin liegt das Leitprinzip der Religion.

Die dritte grundlegende Implikation betrifft genau diesen letzten Punkt universaler Liebe und universalen Mitgefühls gegenüber allen Geschöpfen: Ostad Elahi betont die ethische und spirituelle Notwendigkeit, inmitten der Gesellschaft zu leben und mit anderen zu interagieren. Ich werde später die tiefergehenden Gründe für dieses Prinzip erörtern, da es in direktem Zusammenhang mit einer sich daraus ergebenden spirituellen Praxis steht. Dieses Prinzip eines Lebens inmitten der Gesellschaft hatte Ostad Elahi bereits in seinem Tun zum Ausdruck gebracht, indem er seine mystische Abgeschiedenheit hinter sich ließ, um die anspruchsvolle Laufbahn als Richter einzuschlagen.

Die vierte Implikation schließlich ist die umfassende und unübertragbare individuelle Verantwortung, die wir in allen Lebensbereichen übernehmen müssen.

Dieser letzte Punkt mag auch als Entgegnung auf die Frage dienen, die Ostad Elahi des Öfteren von jenen gestellt wurde, denen die umfassende Tragweite seines Gedankenguts bewusst geworden war:

„Warum hat er sich nicht dafür eingesetzt, Anhänger zu gewinnen, die seine Lehren öffentlich verbreiten, wie es andere spirituelle Persönlichkeiten getan haben?“ Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten und eine mögliche wäre in der Idee zu suchen, die Ostad Elahi wiederholt betont, dass jeder Mensch die Pflicht habe, sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben; niemand könne sich dieser Verantwortung entziehen oder sie an einen anderen abgeben.

Wollte man das Gedankengut von Ostad Elahi in wenigen Worten beschreiben, so könnte man sagen, dass es um ‚die Seele und ihre Suche nach Wahrheit’ geht. Wenn er auf die Fragen seiner Zuhörer antwortet, drehen sich die Themen, die er erörtert – ob es sich nun um metaphysische, theologische oder mit der spirituellen Umsetzung verknüpfte Fragen handelt – um diese zentrale Idee der Suche. Und diese Suche bezieht sich, wie er immer wieder betont, auf mehrere grundlegende Punkte:

Die Wahrheit besteht für den Menschen darin zu wissen, was er ist, woher er kommt, was seine Pflichten hier sind und wohin er geht. Wenn er diese Fragen zum Gegenstand seiner Suche gemacht, sie praktisch umgesetzt und verstanden hat, hat er die Wahrheit erreicht.

Der Grundpfeiler der Spiritualität ist, dass der Mensch erkennt, warum er erschaffen wurde, was seine Pflicht und was sein Ziel ist.

Unsere Pflicht und unser Ziel ist, Seine Gebote zu befolgen, damit wir die Vollkommenheit erreichen.

Ostad Elahi erinnert uns unaufhörlich daran, dass unser Schicksal als menschliche Wesen trotz der vielen spirituellen Herausforderungen und Verantwortlichkeiten notwendigerweise Teil eines viel umfassenderen Prozesses der Vervollkommnung ist, der die gesamte Schöpfung betrifft:

Die Vervollkommnung von den Mineralien zu den Pflanzen, von den Pflanzen zu den Tieren und von den Tieren zu den Menschen ist ein natürlicher Prozess […] Da die Menschen eine Himmlische Seele haben, müssen sie sich selbst darum bemühen zur Quelle zu gelangen, während Mineralien, Pflanzen und Tiere von der Natur in ihrem Prozess der Vervollkommnung unterstützt werden.

Nach Ostad Elahi ist die menschliche Seele oder das ‚Selbst‘ ein einzigartiges Kompositum und der Konvergenzpunkt zweier völlig unterschiedlicher Dimensionen: zum einen ist da die individuelle ‚Himmlische Seele‘ (oder der unsterbliche Geist), die den ‚göttlichen Odem‘ in sich trägt und in ständiger Kommunikation mit der Quelle steht, und zum anderen die ‚Irdische Seele‘, die sterblich und von bascharischer Natur ist (nach dem arabischen Wort baschar, das menschliche Tier). Sie entsteht aus der einzigartigen und individuellen Kombination vormals tierischer, pflanzlicher und mineralischer Seelen, die durch ebendieses Prinzip der Vervollkommnung zu einem Körper zusammengesetzt wurden. Aus der Sicht von Ostad Elahi ist die Verbindung und Verschmelzung dieser beiden Dimensionen unserer Seele und unseres tierischen Ichs im Körper nicht etwa eine Falle oder ein Gefängnis, dem man zu entkommen suchen sollte. Ganz im Gegenteil, es ist gerade dieses komplexe Zusammenspiel, das für die Himmlische Seele eine einzigartige irdische Situation schafft, durch die sie lernen und ihr spirituelles Potential entfalten kann.

Ostad Elahi betont des Öfteren, dass der Weg, der zur wahren Verwirklichung unserer spirituellen Natur führt, seinen Anfang darin hat, ein echtes Bewusstsein unserer Seele, d.h. unseres Selbst, anzustreben und zu entwickeln.

Das wahrlich Seiende ist die Seele – der Körper ist nur ein Instrument des Seienden und nicht das wahrlich Seiende. Wer die Vollkommenheit erreicht, taucht in den Ozean der Einheit ein. Dennoch behält jedes Teilchen seine Identität bei.

Es ist unmöglich, eine Reise zu unternehmen, ohne zumindest ansatzweise das Ziel zu kennen. Aus der Sicht von Ostad Elahi ist das Ziel der spirituellen Reise daher der Prozess der Vollkommenheit. Die folgende Aussage fasst recht trefflich den Zusammenhang zwischen unserem spirituellen Ziel und den vielfältigen praktischen und konkreten Aspekten zusammen, die mit dieser spirituellen Reise verknüpft sind.

Je mehr man es schafft, die Triebkräfte und Wünsche des Egos auf Distanz zu halten und sich den Empfindungen eines wahren Menschen anzunähern, desto näher kommt man der Vollkommenheit. […] Ein vollkommener Mensch ist jemand, der anderen gegenüber das praktiziert, was er für sich selbst möchte, und der andere vor dem bewahrt, was er für sich selbst nicht möchte. Das sagt sich sehr leicht, aber in der Praxis ist es sehr schwer umzusetzen. […] Man muss sich rund um die Uhr kontrollieren und dabei sein eigener Richter sein.

Daneben gibt es noch weitere, womöglich sogar noch treffendere Zitate, in denen Ostad Elahi diesen spirituellen Zustand in Form von konkreten ethischen Handlungen erläutert.

Ein wahrer Mensch ist jemand, der sich am Glück anderer erfreut und ihr Leid mit ihnen teilt.

Der Grundpfeiler des Lebens in dieser Welt ist, das Recht des Anderen zu respektieren.

Der spirituell Reisende muss das Gleichgewicht [dieser vier Säulen] bewahren: Seele, Körper, Familie und Gesellschaft.

Da es sehr schwierig ist, an diesem Ziel zu arbeiten, und die Gefahr besteht, dass wir ermüden, ist es wichtig, dass wir uns – bevor wir uns mit der praktischen Umsetzung beschäftigen – zunächst in Erinnerung rufen, was Ostad Elahi über die Bedeutung von Glauben, spiritueller Gewissheit und Selbstmeisterung gesagt hat:

Für jeden Menschen gibt es Höhen und Tiefen, aber in unterschiedlichem Ausmaß. Der Mensch sollte versuchen, indem er sich von den Widrigkeiten des Lebens distanziert, sich selbst zu meistern. Wenn er sich innerlich meistern lernt, wird ihm alles leichter fallen.
Der Mensch sollte seinen Freien Willen nicht in die Hände des Schicksals legen, sondern vielmehr versuchen, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen. Das bedeutet, so sehr dem göttlichen Willen ergeben zu sein und sich so weit von allem fernzuhalten, was gegen Seine Zufriedenheit geht, dass die Wirrungen des Schicksals bedeutungslos werden.

Das folgende Zitat fasst treffend zusammen, was uns die Religionen in Bezug auf die spirituelle Praxis lehren.

Die Prinzipien der Religionen gründen auf vier unumstößlichen Säulen: Enthaltung, Wohltätigkeit, Gebet, reine Intention und Aufrichtigkeit gegenüber Gott.

Nachdem er die Rolle von Enthaltung und Wohltätigkeit erläutert hat, fährt Ostad Elahi wie folgt fort:

Gebet: Die Voraussetzung für das Gebet ist, dass man aufmerksam auf die göttliche Quelle ist – und nicht nur bestimmte Sätze aus Gebetsbüchern wiederholt oder bestimmte Regeln befolgt.

Reine Intention: Für alle Geschöpfe das wünschen, was man für sich selbst möchte, und anderen gegenüber nichts tun, was man für sich selbst auch nicht möchte.

Wenn wir diese vier Säulen beachten, werden wir gereinigt, verlassen unseren animalischen Zustand und verwandeln uns in einen wahren Menschen. Es liegt in der Natur eines wahren Menschen, immer danach zu streben einen positiven Einfluss auszuüben.

Natürlich ist jedem klar, dass es eine Sache ist, über diese Prinzipien zu sprechen, und eine ganz andere, sie in die Praxis umzusetzen! Bevor wir weitere Aussagen von Ostad Elahi zitieren, die den Weg beschreiben, der zur Selbst- und Gotteserkenntnis führt, sollten wir den Konflikt beleuchten, der zwischen dieser metaphysischen Interpretation des ‚eigentlichen Selbst‘ (die offenbar mit einem ‚kontemplativen‘ Ansatz einhergeht) sowie den praktischen, ethischen und religiösen Lehren (die dem Ideal eines kontemplativen, zurückgezogenen Lebens zuwiderlaufen) vorzuliegen scheint. Warum betont Ostad Elahi wiederholt, dass ein aktives und verantwortungsvolles soziales Leben inmitten dieser Welt für den Prozess der Selbsterkenntnis notwendig ist? Der Grund liegt darin, dass es uns nicht gelingen kann, uns selbst zu erkennen und den Spiegel unseres Herzens zu polieren, wenn wir nicht den Konflikten und Herausforderungen eines aktiven weltlichen Lebens ausgesetzt sind, die uns unser eigenes Bild zurückwerfen.

Ein Leben inmitten der Gesellschaft ist gemäß Ostad Elahi demnach die wirkungsvollste und fruchtbarste Umgebung oder Schule, um die innere Wirklichkeit der Seele zu entdecken und zu läutern. In der folgenden Anekdote erzählt er von seiner eigenen Erfahrung:

Eines Abends erfasste mich zur Zeit der Dämmerung ein spiritueller Zustand (Hâl) und ich beschloss diesem Zustand nachzugehen und mich ganz allein in Gebet und Meditation zu versenken.

Dann beschreibt er in humorvoller Weise, wie er vom Lärm der Nachbarn gestört wurde und infolgedessen auf die Dachterrasse des Hauses steigen musste, und wie er dann aufgrund einer Reihe von Ereignissen gezwungen war, die Straße hinunterzugehen und sich auf den Weg zu einem entfernten Mausoleum zu machen – ohne dass es ihm letztlich gelang, einen abgeschiedenen Ort zu finden, der sich zur inneren Sammlung eignete. Schließlich erklärt er:

Kurzum, an jenem Abend verschwand mein spiritueller Zustand, wie er gekommen war, und was ich auch tat, Gott gab mir nicht Seine Zustimmung, mit mir allein zu sein. „Oh Herr “, dachte ich, „Du prüfst mich erneut? Gut, mein Gott. Möge Dein Wille geschehen!“ In diesem Moment war eine Stimme zu hören: „Es ist mithin das eigene Herz, das du als Rückzugsort wählen solltest. Es gibt keinen Raum, wo man allein sein kann – außer im eigenen Herzen!“ Mir wurde danach von der spirituellen Welt gesagt, dass man mich daran hindern wollte, mich in meine Ecke zu verkriechen, da ich seit geraumer Zeit die Tendenz hatte, mich von der Welt zurückzuziehen. Von Berufs wegen war ich aber verpflichtet, mich mehr unter die Leute zu mischen, Einladungen anzunehmen und am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben.

Es ist mithin das eigene Herz, das man als Rückzugsort wählen sollte. Sich von der Gesellschaft abzusondern, ist nicht richtig. Wir sollten inmitten der Gesellschaft leben und uns zugleich vor ihren schlechten Einflüssen schützen. Wer sich in eine Ecke verkriecht, wer Einladungen oder Kinobesuche meidet bzw. den Leuten aus dem Weg geht… und sich für tugendhaft hält, der irrt. Was zählt, ist, tugendhaft zu bleiben, während man mitten in der Gesellschaft lebt.

Es lässt sich ermessen, welchen Beitrag ein aktives Leben in dieser Welt für die Selbst- und Gotteserkenntnis leistet, wenn man bedenkt, dass die Prinzipien, die diesen praktischen Ratschlägen zugrundeliegen und die den spirituell Reisenden empfohlen werden, die eigentlichen Säulen der Vervollkommnung bilden. Diese Prinzipien lassen sich in drei wesentlichen Punkten zusammenfassen: Erstens, Gutes sagen, Gutes sehen und Gutes wollen; zweitens, konsequent gegen die offenen oder auch verdeckten Angriffe unseres Herrschsüchtigen Selbst kämpfen; drittens, unsere Aufmerksamkeit fortwährend auf Gott richten. Im Grunde handelt es sich dabei um verschiedene, untrennbare Aspekte ein und derselben spirituellen ‚Arbeit’ auf dem Weg der Vervollkommnung. Wenn man an einem dieser Punkte arbeitet, ruft man notwendigerweise die anderen beiden ebenfalls mit auf den Plan.

Das erste Prinzip, auf das sich Ostad Elahi durchweg bezieht, besteht darin, schrittweise dahin zu gelangen, Gutes zu sagen und Gutes zu wollen – bis man schließlich das Gute in allem sieht:

Wer die Wahrheit sucht, sollte sich diese Devise zu eigen machen:

Gutes sagen: gut sprechen, nicht schlecht über andere reden, niemanden verleumden, keine üblen Worte wie Beleidigungen benutzen, niemanden verfluchen oder beleidigen.

Gutes sehen: nichts und niemanden als schlecht ansehen, sondern alles als gut ansehen.

Gutes wollen: das, was man für sich selbst möchte, auch für alle anderen wünschen; keinen Hass, keine Habgier, keinen Neid oder Groll empfinden, keine Rache üben wollen usw.

Dieses Grundprinzip, auf das die Propheten und Heiligen so oft Bezug genommen haben, ist auf den ersten Blick leicht zu befolgen; aber sobald wir nur den kleinsten Versuch unternehmen, es in die Praxis umsetzen, werden wir mit einem weiteren zentralen Thema von Ostad Elahis Lehre konfrontiert: dem schwierigen Kampf zwischen unserer Himmlischen und unserer Irdischen Seele, also dem animalischen oder ‚Herrschsüchtigen Selbst’ mit all seiner Tücke und seinen zahlreichen Maskierungen. Dieser unvermeidbare Kampf, den wir gegen jene Dimension in uns führen müssen, die sich in naturgegebener Weise unserer höheren, göttlichen Natur entgegenstellt, nimmt in jedweder religiösen Tradition eine zentrale Bedeutung ein. Aber die Art und Weise, wie Ostad Elahi dieses Thema über seine gesamten Lehren hinweg darstellt, verhilft uns zu neuen Einsichten.

Zunächst betont Ostad Elahi die Notwendigkeit, stets jene höhere Instanz in uns zu stärken, die er als Himmlische Seele bezeichnet – und nicht die Kraft unserer Irdischen Seele zu schwächen. Mit anderen Worten, wahre Askese ist nicht die Schwächung des Körpers, sondern die harmonische und ausgewogene Entwicklung aller Dimensionen unseres Wesens.

Je stärker die Seele ist, desto mehr gelingt es ihr, das Ego zu meistern. Die Methode, um unsere Seele zu stärken, ist ihre Würde zu erkennen und ihren spirituellen Rang wertzuschätzen, bis es uns zur zweiten Natur wird, das heißt, bis wir alles verabscheuen, was der Würde der Seele zuwiderläuft.

Der dritte wesentliche Aspekt der praktischen spirituellen Lehren Ostad Elahis liegt darin, ‚unsere Aufmerksamkeit auf Gott’ zu richten. Dieser Aspekt ist auf jeder Stufe unseres spirituellen Lebens präsent, wie er an wiederholter Stelle betont. Daher gilt zunächst für jede Religion:

Ziel und Resultat aller Gebete, aller Andachtsübungen und so weiter und so fort lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen: Fortwährende Aufmerksamkeit auf Gott und stets die Suche nach der göttlichen Zufriedenheit vor Augen haben.

Das, was im Gebet zählt, ist die Intention. Gleich welche Religion oder welchen Glauben man ausübt – es genügt, dass man seine Aufmerksamkeit auf Gott richtet, damit ist es angenommen; in welcher Sprache man das tut, ist nicht wichtig. Aus Sicht der spirituellen Welt reicht es, Herzenspräsenz zu haben und einen inneren Dialog zu führen.

Die Aufmerksamkeit auf die Quelle ist auf dem spirituellen Weg und sogar im sozialen Leben ein grundlegendes Prinzip. Diesbezüglich sagt Ostad Elahi:

Um eine Verbindung herzustellen, muss der Mensch in allen Situationen seine Aufmerksamkeit auf die Quelle richten. Wir sollten so viel Aufmerksamkeit haben, dass wir in allen Situationen das Gute zu unserem Leitprinzip machen und alles meiden, was schlecht ist.

Wenn die Aufmerksamkeit auf die Quelle schon auf den grundlegenden Ebenen des religiösen Lebens eine zentrale Rolle spielt, wird klar, welche Bedeutung sie hat, wenn die Seele auf dem Weg zur Selbst- und Gotteserkenntnis voranschreitet.

Es ist zu hoffen, dass dieser allgemeine Überblick über Ostad Elahis spirituelles Gedankengut vermitteln konnte, welche Bedeutung ein spirituelles Theoriegebäude hat, wenn es mit einer konsequenten ethischen Praxis verknüpft ist, und wie universell und innovativ sein Ansatz und seine spirituelle Pädagogik sind.

Wie Ostad Elahi selbst in den letzten Jahren seines Lebens sagte:

Ich habe nichts unausgesprochen gelassen. Man muss nur die notwendige Einsicht und Willenskraft haben – und die Willenskraft kommt von der Seele.

Wenn diese kurze Zusammenfassung seiner Lehren an die Heiligen Schriften oder bestimmte Gebote der großen Religionen erinnern, so sollte uns das nicht verwundern. Denn Ostad Elahi betont an wiederholter Stelle, dass die grundlegenden Prinzipien der spirituellen Wahrheit in der Tat identisch und allgemeingültig sind, und dass sie wiederholt von Propheten und Heiligen übermittelt wurden – wenn auch jeweils passend für die Menschen ihrer Zeit.

Dennoch mag es sein, dass diese traditionellen Formulierungen ein und derselben Wahrheit durch Interpretationen oder Verzerrungen, die mit dem Prozess der Überlieferung zusammenhängen, oder auch durch den Gebrauch einer ungewohnten oder symbolhaften Ausdrucksweise missverständlich erscheinen.

Nachdem ein immer größerer Teil von Ostad Elahis Werk nun in Übersetzung vorliegt, kann jeder selbst feststellen, wie es dem Autor gelingt direkt in die Richtung dieser Wahrheit zu weisen, ohne sich dabei einer schwer zugänglichen Symbolik oder problematischer Andeutungen zu bedienen; wie er gerade das, was in früheren Traditionen oftmals verborgen war oder gar ganz fehlte, zutage fördert; wie er uns anhält unsere Aufmerksamkeit auf die ‚Quintessenz’ der Offenbarungsreligionen zu lenken, die alle in derselben Wahrheit wurzeln; wie er schließlich die Theorie und die praxisbezogenen Prinzipien erläutert, so dass sie für jeden verständlich sind.

Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass es noch andere wirkungsvolle Methoden der spirituellen Kommunikation gibt, wie etwa die Musik, in der Ostad Elahi ebenfalls ein Meister war und auf die wir in diesem Vortrag nicht eingehen konnten. Vielleicht vermag die besondere Wirkung seiner Musik – mehr als diese Ausführungen – dazu beitragen, dass sich uns die tiefere Bedeutung einer seiner letzten Aussagen erschließt:

Ich habe jedem so viel gesagt, wie er verstehen konnte. Was ich aber in meinem Herzen trage, darüber habe ich noch mit niemandem gesprochen.