Interview mit Professor Dr. Bahram Elahi, Ostad Elahis Sohn, das anlässlich des Erscheinens seines Buchs Grundlagen natürlicher Spiritualität geführt wurde (erschienen in „L’être et l’esprit“ im Dezember 1997).

Herr Prof. Elahi, in Ihrem Buch „Grundlagen natürlicher Spiritualität“ schildern Sie eine Herangehensweise an die Spiritualität, die als revolutionär gelten darf, wenn man sie mit dem vergleicht, wie Spiritualität heutzutage häufig gesehen wird. Könnten Sie für uns zusammenfassend darstellen, was Spiritualität Ihrer Meinung nach bedeutet?

Die Spiritualität ist das Wissen, das dem Menschen erlaubt, seine Vollkommenheit zu erreichen, also einen Zustand, in dem er seine Urnatur verwirklicht sieht. Es handelt sich dabei um eine Art eigenständige experimentelle Wissenschaft, die uns zur korrekten Kenntnis unserer Rechte und Pflichten führen kann – was meiner Ansicht nach der Kern jeder authentischen Spiritualität ist. Dieser Sichtweise zufolge muss man sich der Spiritualität mit der Geisteshaltung eines Wissenschaftlers nähern. Wie in jeder anderen experimentellen Wissenschaft auch geht es darum, Schritt für Schritt zu lernen, zu verstehen, zu praktizieren, Prüfungen abzulegen, zu ‚verarbeiten’ und zu ‚verinnerlichen’ – ­ und auf diese Weise Fortschritte zu machen bis zur vollständigen Erkenntnis unseres ‚Selbst’ und der Gesetzmäßigkeiten, denen sein Werden unterliegt. Selbstverständlich ist dieser Prozess nicht mit dem Tod des physischen Körpers zu Ende, der ein vorübergehendes, aber zwingend notwendiges Werkzeug ist, um die Grundlagen unserer Entwicklung zu errichten.

Wenn wir von natürlicher Spiritualität sprechen, dann deshalb, weil die Spiritualität nur dann zur Vollendung des Menschen führen kann, wenn sie an seine eigentliche Natur und an seine authentischen spirituellen Bedürfnisse angepasst ist. Wie der Körper, so braucht auch die Seele ihre Nahrung. Aber genauso, wie es Nahrungsmittel gibt, die für den Körper schädlich sind, gibt es spirituell giftige Nahrungsmittel. Wenn wir beispielsweise ein verfälschtes göttliches Prinzip in die Praxis umsetzen oder wenn wir an ein Prinzip glauben, das nicht-göttlichen Ursprungs ist, vergiften wir unser metaphysisches Ich. Es ist folglich wichtig, Zugang zu einer Spiritualität zu haben, die geeignet ist, die Seelen der Menschen gesund zu ernähren, um sicherzustellen, dass die Seele eine fortschreitende Reifung und ein natürliches Wachstum durchläuft. Und genau diesem Bedürfnis begegnet die natürliche Spiritualität insofern, als sie uns ursprüngliche göttliche Prinzipien beibringt, die der Natur unseres eigentlichen Ichs angepasst sind.

Diese Prinzipien lassen sich in einigen anscheinend recht einfachen Regeln zusammenfassen, für die man keiner bestimmten spirituellen oder religiösen Doktrin angehören muss: Gegen unsere Schwachpunkte kämpfen, bis es uns gelingt, ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen Übermaß und Mangel herzustellen (Vollkommenheit); sich ständig des Schöpfers (der wohlwollend und erzieherisch ist) gegenwärtig sein und sich bemühen in allen Angelegenheiten in Einklang mit Ihm zu handeln; anderen gegenüber gut sprechen und handeln wollen, was die Achtung der Rechte anderer mit einschließt; die Grundprinzipien der Ethik und der Religion anwenden, denn diese bewirken Frieden und Ordnung in der Gesellschaft; ein Gleichgewicht zwischen unserem spirituellen und unserem materiellen Leben finden, was voraussetzt, ein Leben in und mit der Gesellschaft zu führen und zu diesem Zweck seinen Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu bestreiten.

Welche Rolle spielt der Glaube an Gott in diesem Prozess der Vervollkommnung?

Wie gesagt, die Spiritualität hat die Aufgabe, die Seele des Menschen harmonisch zu entwickeln, bis er seine Urnatur verwirklichen und seine Vollkommenheit erlangen kann. In diesem Prozess ist der Glaube zunächst unerlässlich, als er uns die Motivation gibt, uns zu entwickeln. Denn der Glaube kann als eine Anziehung zum Transzendenten, zum Göttlichen definiert werden. Je stärker demnach unser Glaube ist, desto stärker sind wir von dieser Transzendenz angezogen und desto stärker ist in uns das Bestreben, uns entwickeln zu wollen. Da wir metaphysischen Ursprungs sind, kann allerdings nur die metaphysische Energie, die vom wahren Gott ausgeht, diese Entwicklung vorantreiben. Um diese metaphysische Energie erfassen zu können, müssen wir die natürliche Meditation praktizieren, das heißt, wir müssen uns in jedem Augenblick bewusst sein, dass Gott gegenwärtig ist, und uns zwingen, fortwährend entsprechend Seiner Zufriedenheit zu handeln. Indem wir die Grundprinzipien kennen und diese anschließend in einer Vielzahl von komplexen Situationen und Fällen anwenden, mit denen uns das Leben konfrontiert, sammeln wir nach und nach die nötige Erfahrung, um beurteilen zu können, wie wir Gottes Zufriedenheit erlangen.

In der Spiritualität ist der Glaube weiterhin notwendig, um eine Lehre zu finden, die an die harmonische Entwicklung unserer spirituellen Dimension angepasst ist. Wenngleich der Schöpfer es sich zur Pflicht gemacht hat, stets ein Führungsseil zur Erde zu reichen, so gibt es verführerische Kräfte, die ebenfalls ihr Seil anbieten. Wie aber sollen wir das wahre Seil von den falschen unterscheiden? Auch hier kann nur der Glaube uns helfen, das richtige Seil zu ergreifen; dieses Seil wird uns helfen, der tiefen ‚Schlucht‘, in der wir uns aktuell befinden, zu entkommen, und uns zur Vollkommenheit führen. Aber Vorsicht: wenn wir hier von Glauben sprechen, meinen wir einen reinen und aufrichtigen Glauben an den wahren Gott, also an Gott, wie Er wirklich ist, und nicht, wie wir Ihn uns ausmalen. Ist unser Glaube nicht aufrichtig, oder glauben wir an einen falschen Gott, verlieren wir tatsächlich auch die positiven Wirkungen, die mit dem Glauben verbunden sind.

Damit der Mensch wachsen und sich entwickeln kann, braucht er das, was wir als „göttliches Licht und göttliche Wärme“ bezeichnen. Das göttliche Licht ist das göttliche Wissen, das heißt, die Vorschriften göttlichen Ursprungs; diese Vorschriften im Alltag durch die praktische Umsetzung zu verstehen und zu verinnerlichen, ist zwingende Voraussetzung, damit sich der Mensch entwickeln kann. Die Wärme ist die Liebe, die wir für unseren Schöpfer haben, und die in uns die notwendige Motivation hervorruft, um diese Vorschriften zu praktizieren, bis sie uns schließlich nähren. Die Voraussetzung aber, um dieses göttliche Licht und diese göttliche Wärme auf natürliche Weise erfassen zu können – das heißt, im richtigen Verhältnis, nicht zu viel und nicht zu wenig – ist der Glaube an Gott.

In Wirklichkeit ist der Glaube an Gott in allen Etappen des Wegs und der spirituellen Arbeit unentbehrlich. Er stellt eine feste Barriere gegen die pathogenen Elemente dar, die ständig drohen die Seele anzugreifen und zu schwächen. Er spielt auch eine tragende Rolle in jenem Prozess, durch den es dem Menschen gelingt, seine Schwachpunkte zu meistern. Der Glaube kann tatsächlich Nebenwirkungen (wie z.B. die Entstehung von Komplexen) neutralisieren, die durch den Kampf gegen einen Schwachpunkt hervorgerufen werden; nur mithilfe des Glaubens können wir außerdem die göttliche Hilfe anziehen, ohne die ein Schwachpunkt nicht dauerhaft gemeistert bzw. beseitigt werden kann. Der aufrichtige Glaube an den wahren Gott ist somit die tragende Säule auf dem Weg der spirituellen Vervollkommnung.

Sie scheinen der praktischen Umsetzung der Spiritualität im Alltag sehr viel Bedeutung beizumessen. Könnten Sie uns erklären, warum?

Traditionell wird die Spiritualität häufig als eine Aktivität gesehen, die sich am Rande der Gesellschaft abspielt. In Wirklichkeit gibt es jedoch keinen Widerspruch zwischen Spiritualität und gesellschaftlichem Leben. Wenn die Spiritualität die Vervollkommnung der Seele zum Ziel hat, wie kann der Mensch besser seine positiven Eigenschaften entwickeln als durch die ständige Konfrontation mit seinen Mitmenschen, also durch ein aktives Leben inmitten der Gesellschaft? Von diesem Standpunkt aus gesehen wird alles spirituell und es ist nicht mehr nötig, der Spiritualität einen gewissen Ort oder eine gewisse Zeit zu widmen – vorausgesetzt, man nimmt zu jeder Zeit und zu allen Gelegenheiten einen spirituellen Blickwinkel ein und bemüht sich im Alltag gemäß den natürlichen spirituellen Prinzipien zu denken und zu handeln.

Die Spiritualität im Alltag besteht in erster Linie darin, sich niemals allein oder verlassen zu fühlen, sich den Schöpfer stets zu vergegenwärtigen, und sich zu wünschen, in allen Dingen mit Ihm in Einklang zu sein. Diese natürliche Meditation, die alle Handlungen unseres Lebens begleiten sollte, erschafft in uns eine positive, motivierende und mobilisierende Energie. Sie bewirkt, dass wir uns selbst und anderen gegenüber aufmerksam sind, dass wir Vertrauen in uns selbst und in Gott entwickeln, und dass wir eine innere Beruhigung und Gelassenheit verspüren. Unser Bewusstseinsfeld erweitert und vertieft sich und allmählich erhalten wir Antworten auf unsere Fragen.

Spiritualität im Alltag heißt auch, sich jederzeit zu bemühen, im Umgang mit unseren Mitmenschen – ob es nun in der Arbeit ist oder im Kreise der Familie oder sonst wem gegenüber – die Rechte des Anderen zu respektieren, also für andere das wünschen, was man auch für sich selbst wünscht, und dabei seine eigenen Rechte zu verteidigen wissen, wenn es nötig ist.

Spiritualität im Alltag bedeutet auch zu verstehen, dass das Böse keine Schöpfung an sich ist, sondern auf eine Fehlfunktion verantwortlicher Wesen, wie es auch der Mensch ist, zurückgeht. Dann begreifen wir, dass es unsere Pflicht ist, gegen das Böse zu kämpfen, dass es jedoch nicht richtig ist, die Menschen als schlecht anzusehen oder ihnen Böses zu wünschen. Auf diese Weise erhält die Vergebung ihren Sinn, entwickeln wir Toleranz und Mitgefühl.

Spiritualität im Alltag umfasst im Grunde die Spiritualität als Ganzes, denn es ist unser alltägliches Leben, in dem wir sie durch fortwährende Aufmerksamkeit auf uns selbst, auf andere und den Schöpfer praktizieren und verinnerlichen können.