Die Abhandlung Kommentar zum Buch der Könige der Wahrheit (Haschieh bar Haqq ol-Haqayeq, 1967) enthält Begriffsklärungen und Erläuterungen, wie sie im epischen Werk seines Vaters Hadj Nematollah Mokri Dscheyhunabadi, dem Buch der Könige der Wahrheit (Schahname-ye Haqiqat), verwendet werden. Ostad Elahi erzählt, wie sein Vater an 40 aufeinanderfolgenden Tagen im Raum auf- und abging und ihm die 15.000 Verse diktierte, die er im selben Atemzug niederschrieb.

Das Werk Buch der Könige der Wahrheit behandelt die spirituelle Geschichte der Welt aus Sicht von Hadj Nemat: Biografie und spiritueller Rang von Propheten und Heiligen sowie von bedeutenden Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte und deren Einbettung in den Kontext der universalen spirituellen Vervollkommnung. Die Dichtung beschreibt die aufeinanderfolgenden Manifestationen der göttlichen Essenz und der göttlichen Repräsentanten, die in jedem Zeitalter in Erscheinung treten, um die Menschheit zu führen. Im letzten Teil des Gedichts gibt Hadj Nemat Hinweise zu seiner eigenen spirituellen Berufung.

Ostad Elahis Kommentar beleuchtet die Dichtung seines Vaters, indem er auf die vielschichtige Terminologie und die Bedeutung poetischer Ausdrücke eingeht. Im Fokus steht u.a. die Unterscheidung zwischen spiritueller und zeitlicher Geschichtlichkeit, das Konzept der göttlichen Manifestation und ganz allgemein Widersprüche, die an einigen Stellen im Text auf den ersten Blick aufzutauchen scheinen. Alles in allem verdeutlicht sein Kommentar, dass das Buch der Könige der Wahrheit nicht eine Zusammenstellung von Legenden und Mythen, sondern vielmehr ein fundierter Bericht allegorischer spiritueller Wirklichkeiten ist.

Auszüge

Zur Frage der Gleichheit in der Schöpfung aus Perspektive des Schöpfers

[Die Verse 1129 bis 1149 des Buchs der Könige der Wahrheit erläutern die Erschaffung verschiedener Arten von Seelen, die als licht, finster und feurig bezeichnet werden. In diesem Ausschnitt widerlegt Ostad Elahi die rein deterministische Interpretation dieser Verse wie folgt:]

Von der göttlichen Schöpfung her gesehen sind die verschiedenen Ebenen der Schöpfung mit Farben zu vergleichen. Egal, ob weiß, schwarz, grün, rot, blau, gelb usw. – jede dieser Farben hat denselben Wert und denselben Rang. Aber die Art, wie diese Farben in einem Gemälde komponiert und zueinander angeordnet sind, verleiht diesem eine einzigartige Qualität und hinterlässt beim Betrachter einen besonderen Eindruck […]

Genauso mag ein Patient finden, dass ein bestimmtes Medikament bitter schmeckt, während ihm z.B. ein tödliches Gift süß und wohlschmeckend erscheint. [Es ist jedoch offensichtlich,] dass sich nicht auf der Grundlage von Erscheinungen oder des Geschmacks des Patienten beurteilen lässt, was der wahre Wert des Medikaments und des Gifts ist. Auch kann den Dingen, entsprechend dem jeweiligen [ästhetischen] Empfinden der Menschen und den jeweiligen Konventionen ein hoher Wert zugeschrieben werden (z.B. Gold, Silber, Kupfer und Eisen oder auch ein Edelstein im Vergleich zu einem gewöhnlichen Stein). Aber von ihrer Schöpfung und ihrer ursprünglichen Beschaffenheit her sind diese Wesen alle gleich. Im Übrigen ist es so, dass man je nach Gebrauch aus Eisen, Kupfer und gewöhnlichen Steinen Dinge schaffen kann, die man mit Gold oder Edelsteinen nicht zustande brächte. Das gilt ebenso für alle anderen Wesen.

Faktoren wie Erbanlagen, Wirkung von Nahrung, Erziehung und Umfeld sowie Ursachen wie Affekte und Triebe oder auch Umstände von Zeit und Ort usw. können jemanden dazu bringen, eine Tat oder Taten zu begehen, die den Vorschriften von Religion und Ethik, dem Diktat des Gewissens, den sozialen Normen sowie der Vernunft entgegengerichtet sind. Auf seine wahre Essenz bzw. seine [von Gott] erschaffene Urnatur ist die Tat nicht zurückzuführen, so dass sich die Frage nach Determinismus und Freiem Willen hier gar nicht stellt. Genauer gesagt, der Allerhöchste, der Schöpfer aller Geschöpfe, der Baumeister alles Erbauten, der Existenzgebende alles Existierenden, hat in seiner Schöpfung niemals etwas Schlechtes erschaffen – schlechte Taten können daher nicht auf die Essenz oder Urnatur des Geschöpfs zurückgeführt werden. Auf der Grundlage dieses Prinzips sollte die Ursache für jedwede schlechte Handlung, die von einer Person ausgeht, nicht im göttlichen Willen oder in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit gesucht werden, sondern vielmehr in den bereits erwähnten Faktoren oder Umständen bzw. in der Tatsache, dass sich die Person von den Wünschen ihres Herrschsüchtigen Selbst hat verleiten lassen.

Wenn demnach die Partikel, die […] von ihrer Schöpfung her als finster, feurig usw. bezeichnet werden, zu dem Zweck gebraucht werden, für den sie erschaffen wurden, wird kein Schaden entstehen. Ein scharfes Werkzeug kann zu legitimen Zwecken benützt werden (z.B. von einem Chirurgen, um ein erkranktes Organ zu behandeln oder abgestorbenes Gewebe an einem Körperglied des Patienten zu entfernen). Wenn es aber dazu verwendet wird, ein unschuldiges Wesen mutwillig zu ermorden, ist das eine schlechte Tat. In beiden Fällen ist das Handeln des Akteurs nicht auf den göttlichen Baumeister zurückzuführen.

Die Erschaffung des Menschen aus Lehm

[Die Verse 1533 bis 1627 des Buchs der Könige der Wahrheit bezieht sich auf die Erschaffung des Menschen aus ‚gelbem und schwarzem Lehm’. Ostad Elahi erläutert dieses Bild in folgendem Ausschnitt:]

Es wurde des Öfteren erwähnt, dass die Funktionsweise des Universums und die Erschaffung aller Geschöpfe auf dem Prinzip der Kausalität beruhen. Die Wissenschaft zeigt uns zudem, dass die Dingheit jedes Dinges oder die Wesenheit jedes Wesens nur durch die Kombination eines negativen Pols mit einem positiven Pol oder durch das Zusammenspiel gegensätzlicher Naturen Form annehmen kann. […] In Übereinstimmung mit der Weisheit der Naturgesetze wurde der Mensch aus einem positiven und einem negativen Pol wie Licht und Dunkelheit erschaffen, in anderen Worten aus ‚gelbem und schwarzem Lehm’. Solange man keine Kontrastfarbe verwendet, also z.B. einen schwarzen Stift auf weißem Papier, kann man keine Zeichnung erstellen; solange man keinen positiv und negativ geladenen Pol miteinander verbindet, kann man keine Elektrizität erzeugen; solange die Seele, die transparent und subtil ist, nicht mit dem Körper verschmilzt, der trüb und von hoher Dichte ist, kann es für sie weder Leben noch Wahrnehmung geben. Daher symbolisiert der ‚gelbe Lehm‘ die immaterielle Seele, die himmlischen Ursprungs ist […], und der schwarze Lehm das triebhafte Herrschsüchtige Selbst, das der physischen Welt von Materie und Form entstammt. Die Verschmelzung von beidem ist nicht nur der Ursprung von Leben und Wahrnehmung, sondern auch der Ursprung aller guten oder schlechten Taten des Menschen.